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Zinnen von Jerusalem. Oben flattert am Kreu-
zesende das Blatt mit der Jnschrift: ,,ll68U8
l>Hai'6nn8, Il.6x lluckaooi'uin" im Wind. Und
in der Tat! Jeder Zoll von dem, der hier am
Holze der Schmach Todesqualen duldet, ist ein
König. Noch ist der die Leiden lösende Tod
zu Wien durch. Hier kniet in vollster Dankbar-
keit und Hingebung Sankt Franziskus mit aus-
gebreiteten Armen vor dem Kruzifixus. Und die
Blicke des Erlösers und des die Dankesschuld
des erlösten Menschengeschlechts symbolisierenden
Heiligen treffen sich in innigster Sympathie. —
Die „Kreuzigung" im Louvre zu Paris,
wo Magdalena das Marterholz, an dem
der Herr schmachtet, kniend umfaßt, wo
Maria und Johannes in ziemlich leerem,
klagendem Pathos den Kreuzesstamm um-
stehen, dürfte mit reichlicher Schülerhilfe
angefertigt sein. — Den historischen Vor-
gang der Kreuzigung als solchen betonen
in erster Linie zwei weitere Gemälde in
den Museen zu Toulouse und Antwerpen.
Die Schächer, die heiligen Frauen, Krie-
ger und Schergen sind diesmal zugegen.
Auf dem Antwerpener Bilde durchbohrt
ein Krieger zu Pferde mit einer langen
Lanze gerade Christi rechte Seite. Auf
Grund dieser Nuance hat das Bild den
Beinamen ,,ll-6 oou^, cio lanoo", der Lan-
zenstoß, erhalten.
Ein mit Necht gepriesenes Wunderwerk
der Malerei ist das Mittelstück des Trip-
tychons der Kathedrale zu Antwerpen, das
die Kreuzabnahme gibt (Abb. 31). Eine
an den Kreuzesstamm sich anlehnende,
rhythmisch wundervoll bewegte Figuren-
gruppenbildung hält unser Auge gefangen.
Der vom Holze gelöste Körper des Herrn
wird auf schneeigem Linnentuche sachte her-
untergehoben. Fünf Männer find mit der
Herabnahme des heiligen Leichnams be-
schäftigt. Zwei Leitern sind an das Kreuz
gestellt. Ganz oben beugen sich zur Hilfe-
leistung zwei Jünger über den Querarm
hinüber. Sehr fein gedacht und natürlich
ist die Nuance, wie der greise Nikodemus
das Linnentuch mit den Zähnen festhält,
um sich mit der linken Hand an dem Quer-
balken zu halten und mit der rechten den
linken Arm des Heilands zu fassen; Jo-
seph von Arimathia unterhalb auf der an-
deren Leiter greift mit seiner Linken dem
Herrn unter die linke Schulter und faßt
mit der Rechten den äußersten Zipfel des
Leintuches. Unten fängt den Körper Jo-
hannes auf, dessen linker Fuß den Boden
berührt, und der sich mit dem rechten wider
die zweitunterste Stufe der rechten Leiter
stemmt. Ganz oben auf der linken Leiter
faßt ein weit über den Querarm des Kreuzes
gebeugter Jüngling mit der linken Hand den
obersten Zipsel des Leintuches; seine rechte kommt
wie tastend der linken Schulter des Heilands
nahe, als wolle sie zugreifen für den Fall,
daß der Körper Jesu ins Schwanken gerate.
Auf der rechten Leiter steigt ein Mann in den
mittleren Jahren vorsichtig die Stufen hinab,
mit den Händen Leiter und Leintuch fassend,
Abb. ss Phot. Hansstaengl
Peler Paul Nubens, Die beiden Söhne des Nubens aus erster Ehe
Fürstlich Liechlensteinsche Gemäldegalerie zu Wien (Texl S. 34)
nicht eingetreten. Ein Blick voll schneidendster
Qual dringt aus dem erhobenen Haupte, das
Ende der Leiden gleichsam erflehend, zum Him-
mel empor. Nnd von den leise geöffneten Lippen
scheint es sich zu ringen: „Mein Gott, mein Gott,
warum hast du mich verlassen?"-„Nnd das
alles für mich!" sagt sich hier der Beschauer.
Das Mitleidsmotiv klingt noch deutlicher auf
dem Bilde der Fürstlich Liechtensteinschen Galerie
Zinnen von Jerusalem. Oben flattert am Kreu-
zesende das Blatt mit der Jnschrift: ,,ll68U8
l>Hai'6nn8, Il.6x lluckaooi'uin" im Wind. Und
in der Tat! Jeder Zoll von dem, der hier am
Holze der Schmach Todesqualen duldet, ist ein
König. Noch ist der die Leiden lösende Tod
zu Wien durch. Hier kniet in vollster Dankbar-
keit und Hingebung Sankt Franziskus mit aus-
gebreiteten Armen vor dem Kruzifixus. Und die
Blicke des Erlösers und des die Dankesschuld
des erlösten Menschengeschlechts symbolisierenden
Heiligen treffen sich in innigster Sympathie. —
Die „Kreuzigung" im Louvre zu Paris,
wo Magdalena das Marterholz, an dem
der Herr schmachtet, kniend umfaßt, wo
Maria und Johannes in ziemlich leerem,
klagendem Pathos den Kreuzesstamm um-
stehen, dürfte mit reichlicher Schülerhilfe
angefertigt sein. — Den historischen Vor-
gang der Kreuzigung als solchen betonen
in erster Linie zwei weitere Gemälde in
den Museen zu Toulouse und Antwerpen.
Die Schächer, die heiligen Frauen, Krie-
ger und Schergen sind diesmal zugegen.
Auf dem Antwerpener Bilde durchbohrt
ein Krieger zu Pferde mit einer langen
Lanze gerade Christi rechte Seite. Auf
Grund dieser Nuance hat das Bild den
Beinamen ,,ll-6 oou^, cio lanoo", der Lan-
zenstoß, erhalten.
Ein mit Necht gepriesenes Wunderwerk
der Malerei ist das Mittelstück des Trip-
tychons der Kathedrale zu Antwerpen, das
die Kreuzabnahme gibt (Abb. 31). Eine
an den Kreuzesstamm sich anlehnende,
rhythmisch wundervoll bewegte Figuren-
gruppenbildung hält unser Auge gefangen.
Der vom Holze gelöste Körper des Herrn
wird auf schneeigem Linnentuche sachte her-
untergehoben. Fünf Männer find mit der
Herabnahme des heiligen Leichnams be-
schäftigt. Zwei Leitern sind an das Kreuz
gestellt. Ganz oben beugen sich zur Hilfe-
leistung zwei Jünger über den Querarm
hinüber. Sehr fein gedacht und natürlich
ist die Nuance, wie der greise Nikodemus
das Linnentuch mit den Zähnen festhält,
um sich mit der linken Hand an dem Quer-
balken zu halten und mit der rechten den
linken Arm des Heilands zu fassen; Jo-
seph von Arimathia unterhalb auf der an-
deren Leiter greift mit seiner Linken dem
Herrn unter die linke Schulter und faßt
mit der Rechten den äußersten Zipfel des
Leintuches. Unten fängt den Körper Jo-
hannes auf, dessen linker Fuß den Boden
berührt, und der sich mit dem rechten wider
die zweitunterste Stufe der rechten Leiter
stemmt. Ganz oben auf der linken Leiter
faßt ein weit über den Querarm des Kreuzes
gebeugter Jüngling mit der linken Hand den
obersten Zipsel des Leintuches; seine rechte kommt
wie tastend der linken Schulter des Heilands
nahe, als wolle sie zugreifen für den Fall,
daß der Körper Jesu ins Schwanken gerate.
Auf der rechten Leiter steigt ein Mann in den
mittleren Jahren vorsichtig die Stufen hinab,
mit den Händen Leiter und Leintuch fassend,
Abb. ss Phot. Hansstaengl
Peler Paul Nubens, Die beiden Söhne des Nubens aus erster Ehe
Fürstlich Liechlensteinsche Gemäldegalerie zu Wien (Texl S. 34)
nicht eingetreten. Ein Blick voll schneidendster
Qual dringt aus dem erhobenen Haupte, das
Ende der Leiden gleichsam erflehend, zum Him-
mel empor. Nnd von den leise geöffneten Lippen
scheint es sich zu ringen: „Mein Gott, mein Gott,
warum hast du mich verlassen?"-„Nnd das
alles für mich!" sagt sich hier der Beschauer.
Das Mitleidsmotiv klingt noch deutlicher auf
dem Bilde der Fürstlich Liechtensteinschen Galerie