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I.
rst zu Beginn des 20. Jahrhunderts
wurden am Himmel der Weltkultur
zwei leuchtende Sterne entdeckt, die
bis dahin ihren stillen Zauber bloß
auf vertraute Kenner ausgeübt hat-
ten, der Maler Ferdinand Georg Waldmüller
und der Dichter Adalbert Stifter. Beide Oster-
reicher, beide im Zeitalter Napoleons geboren und
aufgewachsen, beide Söhne vermöglicher Bürger-
familien, aber durch böse Schicksalsschläge ver-
armt und frühzeitig auf eigenen Broterwerb an-
gewiesen, beide mit dem Zug ins Große ausge-
stattet und in kleinliche Verhältnisse gebannt, beide
um das Glück einer tiefwurzelnden heißen Liebe
betrogen,beideDoppelbegabungen,sowohlmitder
Feder wie mit dem Pinsel tätig, beide bahnbre-
chende Neuerer auf ihrem Gebiete, im Kleinen
das Große eutdeckend, der Natur- und Menschen-
seele in ihre tiefsten und letzten Verästelungen
nachspürend: Waldmüller dichtete in Gemälden,
Stifter malte in Erzählungen. Beide gehören
zu den eigenartigsten Vertretern der romantisch
angehauchten Biedermeierzeit in Europa.
Die ausführlichste, gründlichste und beste
Charakteristik des Künstlers und Menschen Wald-
müller verdanken wir Oskar Berggrueu (in den
„Graphischen Künsten", X. Jahrgang, Wien
1887), während das Monumentalwerk Röß-
lers und Piskos (Wien 1907) sein hauptsäch-
Abb. 3 <Te;t S. 16)
Bildnis einer altcn Bnrgcrssrau (Tantc des Künstlcrs?)
Abb. 4 (Text unten)
Bildnis dcr „Jungfcr Mahm"
liches Lebenswerk in Bild und Schrift vorführt,
der erste Band seine bekauntesten Gemälde und
Zeichnungen, der zweite seine Abhaudlungen und
Aufsätze, sowie Stücke aus seinem Brieswechsel.
Waldmüller wurde am 17. Januar 1793, fast
genau zwei Jahre später als der größte poetische
Genius seiner Vaterstadt, Grillparzer, in Wien
geboren. Jn der Taufe bekam er den Namen
Georg allein. Weshalb er sich später auch Ferdi-
nand nannte, wissen wir nicht. Vielleicht war
dies sein Firmname. Seine Eltern besaßen ein
Wirtshaus auf dem Tiefen Graben in derJnne-
ren Stadt. Die Mutter wollte gleich ihrer from-
men Schwägerin, der „Jungfer Mahm" (Abb. 4)
den begabten lernbegierigen Knaben dereinst dem
geistlichen Stande zuführen. Der Sohn aber,
dessen malerisches Talent sich frühzeitig zu regen
begann, hing andereu Träumen nach. Eines
Tages verließ er die Lateinschule, um sich kurz
entschlossen auf eigene Füße zu stellen.
Bereits ivährend seiner Schulzeit hatte er bei
einem in Wien recht beliebten Blumenmaler
namens Zintler Unterricht im Zeichnen und
Malen genommen. Jetzt, da er die Akademie der
bildenden Künste besuchte, sollteu ihm die erwor-
benen Kenntnisse zur Bestreitung des Lebens-
unterhaltes dieuen; denn von den erzürnten
Eltern war uichts mehr zu erwarten. Mit ein
paar gleichstrebenden und gleichbedürftigen Ka-
meraden hauste er in einer allen gemeinsamen
Dachstube und bepinselte in den seiner Nachtruhe
abgerungenen Mußestunden beim flackernden Licht
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I.
rst zu Beginn des 20. Jahrhunderts
wurden am Himmel der Weltkultur
zwei leuchtende Sterne entdeckt, die
bis dahin ihren stillen Zauber bloß
auf vertraute Kenner ausgeübt hat-
ten, der Maler Ferdinand Georg Waldmüller
und der Dichter Adalbert Stifter. Beide Oster-
reicher, beide im Zeitalter Napoleons geboren und
aufgewachsen, beide Söhne vermöglicher Bürger-
familien, aber durch böse Schicksalsschläge ver-
armt und frühzeitig auf eigenen Broterwerb an-
gewiesen, beide mit dem Zug ins Große ausge-
stattet und in kleinliche Verhältnisse gebannt, beide
um das Glück einer tiefwurzelnden heißen Liebe
betrogen,beideDoppelbegabungen,sowohlmitder
Feder wie mit dem Pinsel tätig, beide bahnbre-
chende Neuerer auf ihrem Gebiete, im Kleinen
das Große eutdeckend, der Natur- und Menschen-
seele in ihre tiefsten und letzten Verästelungen
nachspürend: Waldmüller dichtete in Gemälden,
Stifter malte in Erzählungen. Beide gehören
zu den eigenartigsten Vertretern der romantisch
angehauchten Biedermeierzeit in Europa.
Die ausführlichste, gründlichste und beste
Charakteristik des Künstlers und Menschen Wald-
müller verdanken wir Oskar Berggrueu (in den
„Graphischen Künsten", X. Jahrgang, Wien
1887), während das Monumentalwerk Röß-
lers und Piskos (Wien 1907) sein hauptsäch-
Abb. 3 <Te;t S. 16)
Bildnis einer altcn Bnrgcrssrau (Tantc des Künstlcrs?)
Abb. 4 (Text unten)
Bildnis dcr „Jungfcr Mahm"
liches Lebenswerk in Bild und Schrift vorführt,
der erste Band seine bekauntesten Gemälde und
Zeichnungen, der zweite seine Abhaudlungen und
Aufsätze, sowie Stücke aus seinem Brieswechsel.
Waldmüller wurde am 17. Januar 1793, fast
genau zwei Jahre später als der größte poetische
Genius seiner Vaterstadt, Grillparzer, in Wien
geboren. Jn der Taufe bekam er den Namen
Georg allein. Weshalb er sich später auch Ferdi-
nand nannte, wissen wir nicht. Vielleicht war
dies sein Firmname. Seine Eltern besaßen ein
Wirtshaus auf dem Tiefen Graben in derJnne-
ren Stadt. Die Mutter wollte gleich ihrer from-
men Schwägerin, der „Jungfer Mahm" (Abb. 4)
den begabten lernbegierigen Knaben dereinst dem
geistlichen Stande zuführen. Der Sohn aber,
dessen malerisches Talent sich frühzeitig zu regen
begann, hing andereu Träumen nach. Eines
Tages verließ er die Lateinschule, um sich kurz
entschlossen auf eigene Füße zu stellen.
Bereits ivährend seiner Schulzeit hatte er bei
einem in Wien recht beliebten Blumenmaler
namens Zintler Unterricht im Zeichnen und
Malen genommen. Jetzt, da er die Akademie der
bildenden Künste besuchte, sollteu ihm die erwor-
benen Kenntnisse zur Bestreitung des Lebens-
unterhaltes dieuen; denn von den erzürnten
Eltern war uichts mehr zu erwarten. Mit ein
paar gleichstrebenden und gleichbedürftigen Ka-
meraden hauste er in einer allen gemeinsamen
Dachstube und bepinselte in den seiner Nachtruhe
abgerungenen Mußestunden beim flackernden Licht
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