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Die Kunst dem Volke <München> — 1916 (Nr. 25-28)

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Kosch, Wilhelm: Ferdinand Georg Waldmüller
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https://doi.org/10.11588/diglit.21067#0157
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30

Abb. 43 (Text unten)

Das verkaufte Kalb

Phot. Bruckmann

Reich und Arm werden einander gegenübergestellt.
Schweren Herzens hat sich die arme Mutter ent-
schlossen, das ältere ihrer zwei Kinder, deren
Vater und Ernährer offenbar nicht mehr am
Leben ist, herzugeben. Klagend richtet sie ihre
Blicke zum Himmel, das bitterste Opfer ihres
Lebens bringend. Das reiche kinderlose Ehepaar,
das nun plötzlich einen so hübschen Jungen als
Sohn bekommen soll, freut sich dagegen der glück-
lichen Stunde von Herzen. Liebevoll treuherzig
streckt die Frau des Hauses ihre Arme nach dem
ängstlich verlegenen künftigen Pflegesöhnchen aus,
während ihr Gemahl sich vom Notar, einem
sreundlichen alten Herrn, den Gänsekiel reichen
läßt, um die Adoptionsurkunde zu unterschreiben.

Es würde zu weit führen, wollte man all die
Genrebilder unseres Meisters, die er teils in Ver-
bindung mit der inneren oder äußeren Einrichtung
eines Hauses oder Hofs z. B. „Die Aufnahme
des neuen Lehrlings" (Abb. 27), „Der Abschied
der Patin" (Abb. 36), „Der Abschied des Einberu-
fenen" (Abb.30), „Heimkehr" (Abb.llL), „Das ver-
kaufteKalb" (Abb.43), „DiePfändung" (Abb.44),
„Genesung" (Abb. 47), teils im Zusammenhang
mit einer freien Landschast z. B. „Begegnung im
Walde"(Abb.40),„AufderBergstraße"(Abb.51),
„Die ersten Frühlingszeichen" (Abb. 49), „Jm
Wiener Wald" (Abb. 52), „Kirchgang imFrühling"
(Abb.50) in ihren Einzelheiten auseinandersetzen.
Nur drei Gemälde seien zum Schluß eingehender
betrachtet, weil sie zu den figurenreichsten Wald-

müllers gehören und seine ganz hervorragende
Kompositionsbegabung, die wir getrost Genialität
nennen dürfen, ins hellste Licht rücken.

Das sind „Der Guckkastenmann" (Abb. 2),
die „Klostersuppe" (Abb. 45) und die „Perch-
toldsdorfer Bauernhochzeit" (Abb.42). Der Guck-
kasten, eine Art Panorama, ein beliebtes Unter-
haltungsmittel vor hundert Jahren, zog vor allem
die Jugend immer wieder an. Jn den Tage-
büchern des Studiosus Eichendorff lesen wir, daß
er in seiner Kindheit die Freuden eines Guck-
kastens ausgekostet hat. Wie erst mögen sich die
noch anspruchsloseren bäuerlichen Knaben und
Mädchen, die Waldmüller in seinem großen
Gruppengemälde festhält, an solch einem Wunder-
werk der Schaukunst ergötzt haben! Doch der
Künstler begnügt sich nicht mit der Darstellung
der Kleinen, auch ihre erwachsenen Geschwister,
Elternund Großeltern läßt er unter dem zerrissenen
Schindeldach der Scheune den Apparat des Guck-
kastenmanns bestaunen. Dieser versteht sein Ge-
schäft und erläutert alles mit weithin schallender
Stimme. Alles scheint aufs Höchlichste vergnügt
zu sein, nur ein armes Mädchen, wohl seine
Tochter, hockt wandermüd zu seinen Füßen auf
dem Boden, erschöpft das ernste Gesichtchen mit
dem linken Arm ein wenig stützend. Also auch hier
wieder Gegensätze, die dem lebensvollen Ganzen
ein tiessinniges Gepräge verleihen!

Die „Klostersuppe" gehört gleichfalls zu den
mehr heiteren als ernsten großen Schöpfungen
 
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