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Kunst der Zeit: Zeitschrift der Künstler-Selbsthilfe: Periodica — 1.1929/​1930

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Kubsch, Hugo: Erziehung zur Form
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https://doi.org/10.11588/diglit.55057#0134

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Willy Jaeckel Selbstporträt


tum —, aber ihr Formgefühl stand manchmal dem der Ägypter nicht nach.
Man hat mittelalterliche Holzschnitte mit dem Projektierapparat auf riesige
Wandflächen geworfen, und sie wirkten wie genial komponierte Kartons,
weil jedes Detail der Holzschnitte, wie bei den ägyptischen Plastiken, dem
Kompositionsgedanken eingeordnet ist. Wer zum erstenmal Abbildungen nach
Holbeins „Totentanz“ sieht, wird, wenn er es nicht weiß, nicht glauben
w'ollen, daß diese Holzschnitte nur die paar Quadratmeter Fläche einnehmen,
so monumental wirken sie.
Zur Form erziehen kann sich jeder leicht, der in irgendeinem der
Formung zugänglichen Material arbeitet und jeder, der fähig ist, einen Stuhl
oder eine Kaffeekanne perspektivisch richtig zu zeichnen. Daß der Künstler,
der wirklich schöpferische Mensch, Bilder schon in die Natur hineinsieht, wird
der schlichte, genießende Kunstfreund, der fähig ist, die Natur schlecht und
irgendwie abzuschreiben, nachzuformen, leichter begreifen als der mit Wissen
vollgestopfte Kunstenthusiast.
Vincent van Gogh schreibt einmal an seinen Bruder Theo: „Das junge
Korn kann etwas unaussprechlich Reines und Sanftes haben, das eine ähnliche
Rührung erweckt wie z. B. der Ausdruck eines schlafenden Kindchens. Das
niedergetretene Gras am Rande eines Weges hat etwas Ermüdetes und Be-
staubtes wie die Bevölkerung eines Arbeiterviertels.“ Das kann auch ein
anderer Mensch aus der Natur ablesen; ob es ihn aber so tief packt, bis ins
Innerste ergreift, daß er es gestalten muß und kann, das ist das Geheimnis
des Schöpferischen, das auch die tiefbohrendste Kunstwissenschaft bis jetzt
nicht entschleiert hat.

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