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Kunst der Zeit: Zeitschrift der Künstler-Selbsthilfe: Periodica — 1.1929/​1930

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Schiff, Fritz: Wachstum und Bedeutung der neueren religiösen Malerei
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https://doi.org/10.11588/diglit.55057#0276

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Noch waren schlechte Zeiten für die Kirchen. Frankreich fiel von Rom
ab, im geistigen Deutschland triumphierte Haeckels radikaler Monismus, der
Protestantismus verlor an dogmatische Substanz, und nichts stand so sehr
außer jeder Diskussion, wie eine religiöse Kunst. Man war satt und hoffte,
noch satter zu werden, immer auf Kosten der Konkurrenz, des Nachbarn,
versteht sich. Der Appetit der Bourgeoisien und ihrer Staaten steigerte
sich ins Unermeßliche.
So viel Unersättlichkeit erschütterte die wachsten Köpfe. Zwar erkannten
sie die Ausweglosigkeit dieser Persönlichkeitskultur und forderten Bin-
dungen, aber von ihrer bürgerlichen Bildung geblendet, begriffen sie nicht
die Notwendigkeit, dieses ganze System durch die Kräfte der neuen Klasse,
des aufsteigenden Proletariats, zu stürzen, sondern suchten Erneuerung
ihrer Welt aus dem primitiv-kollektivistischen Geiste des Mittelalters. Die
Philosophen begannen der Erfahrung zu spotten und die Wahrheit in der
Erleuchtung zu suchen, die Künstler aber erschraken vor der unbeschwerten
Heiterkeit, mit der man immer wieder die Schönheiten dieser Welt be-
sungen hatte. Die Dinge schienen nicht mehr so einfach zu sein, die Rech-
nungen so glatt aufzugehen, wie die Biologie bisher verheißen hatte, man
suchte nicht mehr die Erscheinung, das Vergängliche, sondern das „Ewige“,
das Bleibende; der Expressionismus war geboren. Die durchaus persönliche
„innere Schau“, nicht der Anblick der Dinge wurde gestaltet. An Stelle
der Wiedergabe der Natur trat die Vision von der eigentlichen Wesenheit
alles Seienden. In seiner ganzen Struktur war dieser Expressionismus eine
metaphysisch gerichtete Kunst, eine Kunst der Religiosität in einem sehr
persönlichen, noch vom liberalen Protestantismus ererbten Sinne; noch
fehlten die Darstellungen von Themen, die ein religiöses Gemeinschafts-
erlebnis enthielten. Man war auf der Suche nach einer neuen Religion,
denn noch sträubte man sich, zu eben jenen Kirchen zurückzukehren, aus
deren Joch man sich gerade befreit hatte.
Am Mythos sollte sich die Kunst erneuern, denn Kunst, man begriff
es jetzt, ist antirational, ist wie der Traum, ist Formung uralter, von der
Kultur überdeckter seelischer Regungen. Aber ein neuer Mythos läßt sich
nicht konstruieren, man mußte, da die klassische Antike von den Aka-
demikern zugrunde gerichtet worden war, zu den biblischen Mythen zurück.
Als einer der ersten malte Emil Nolde neben seinen Dämonen und von
geisterhafter Kraft erfüllten Blumen und Masken das orientalische Märchen
vom gekreuzigten Gott. Ernst Barlach schuf seine von leidenschaftlichstem
religiösen Mitleid und gewaltigster seelischer Stärke beherrschten Figuren.
Verzweifelt nach Rettung aus dem immer drohender werdenden Chaos
suchend, in das alle Wissenden die bürgerliche Gesellschaft stürzen sahen,
stieß man im inbrünstigen Gebet in sein eigenes Erleben und nannte es Gott.
In klarer Erkenntnis der ihr drohenden Gefahr hatte sich die römische
Kirche sofort nach der Revolution bereit erklärt, die feudalen Mächte zu
opfern, wenn nur die bürgerliche Gesellschaft gerettet würde. Die tausend-
jährige Erzfehde zwischen Staat und Kirche fand ihr für Rom nicht un-
günstiges Ende. Es ging um die Erhaltung der gottgewollten Ordnung.
Verängstigte und in ihrer wirtschaftlichen Existenz schwer bedrohte Klein-
bürgermassen bildeten in allen Ländern die Schutzgarde für diese Gesell-
schaft; der Faschismus entstand. Noch ehe er in Italien, dem Lande des
rückständigsten Industrialismus und der syndikalistisch verwirrten Arbeiter-
schaft, verwirklicht wurde, proklamierten die einst so revolutionären Futu-
risten, an ihrer Spitze Carrä, das Ende aller chaotischen Kunst und stellten
unter dem Namen „valori plastici“ in der Kunst Ruhe und Ordnung her.
In Deutschland nannte man das etwas später „Neue Sachlichkeit“.
Der alte ehrliche Kohlkopf in allen Stilarten von Manet bis Cezanne
regierte wieder die Stunde. Aber die Stabilisierung währte nicht lange.
1928 schon setzte die große Weltkrise ein, die Klassenspannung wuchs, nun
hieß es handeln. Die Aufgaben gegen den inneren Feind, die marxistische
Arbeiterschaft, wurden verteilt. Der Faschismus organisierte seine Bürger-

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