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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — 3.1909

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Heft IV (April 1909)
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Muthesius, Hermann: Wohnungskultur, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.33469#0074

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wirtschaftlichen Last wird, befördert sie auch gerade hier das Scheinwesen und
wird sogar häutig zu einer völligen Karikatur insofern, als sie einen unvereinbaren
Gegensatz zwischen den täglichen Lebensgewohnheiten und dem Gebaren bei jenen
Gastmählern heraufführt, die den Kern der heutigen Repräsentation bilden.

Zu unseren Abbildungen. Unsere heutige Kunstbeilage, eine Bildnisstudie,
sowie die Abbildungen 1 und 2 sind Arbeiten des badischen Kollegen Ernst Riess,
von dem ein früheres Heft schon Proben seines Könnens gebracht hat. Abbildung 3,
eine Schülerzeichnung der Oberrealschule Mannheim, ist nach einem Sepia-Aquarell
vervielfältigt. Sie zeigt eine Innenraumstudie, allem nach ein malerischer Winkel
des Zcichensaals. Auch Abbildungen 4 und 5, Landschaftsstudien aus Mannheim
und Umgebung, sind unter Leitung desselben Zeichenlehrers, des uns als Künstler
wohlbekannten Kollegen Schindler entstanden.
Die Spalte für „einfache Schulverhältnisse“ fällt diesmal aus, da sämtliche
Abbildungen de$ nächsten Heftes diesem Gebiete dienen sollen. G. K.
Umschau. Das Ansehen von Bildern. Der bekannte Politiker und ehemalige
Pastor Dr. Friedrich Naumann veröffentlicht in der von ihm redigierten „Hilfe“ folgende
Sätze, die, weil von allgemeinem Interesse, wir unsern Lesern nicht vorenthalten möchten:
I.
Ehe man den Kunstwert von Gemälden oder Zeichnungen ermessen kann, muss man
verstehen, Bilder anzusehen. Zum Ansehen gehört noch keine besondere ästhetische Begabung,
sondern nur Geduld und guter Wille. Selbstverständlich muss jedes Bild auf seine eigene
Weise angesehen werden. Bei manchem genügt ein Blick, während bei andern mehrmalige
ernstliche Vertiefung nötig ist. Das Ansehen wird sehr unterstützt, wenn man imstande ist,
sich dadurch von einzelnen Teilen des Bildes genauere Rechenschaft zu geben, dass man sie
abzeichnet, und sei es auch nur mit wenigen Strichen. Aber auch wer garnicht zeichnen
kann, wird es lernen, den tatsächlichen Inhalt von Bildern zu erfassen, sobald er einige gute
ältere und neuere Malereien genau und eindringlich anzusehen sich die Mühe nimmt.
II.
Alles menschliche Verständnis ruht auf Erinnerung. Wer also Verständnis für Bilder
gewinnen will, muss sein Erinnerungsvermögen für sichtbare Dinge pflegen. Es ist kaum
glaublich, wie schlecht das Gedächtnis vieler Menschen gegenüber aller Sichtbarkeit arbeitet.
Dieselben Leute, die genau wissen, wie der Engländer dieses oder jenes Wort ausspricht
oder wie hoch die Zahl der preussischen Truppen bei Prag war, wissen nicht, ob ihr Haus
ein Ziegel- oder Schieferdach besitzt, und ob bei der Kirche ein Ahornbaum oder eine Linde
steht. Begreiflicherweise können Menschen ohne alles Gedächtnis für das, was sie sehen,
auch ein Bild nur gedächtnislos, das heisst oberflächlich ansehen.
III.
Man veranstalte kleine Gedächtnisübungen, indem man sich im Kopfe ein Gebäude
oder einen Berg vorzustellen sucht, den man oft gesehen hat! Der erste Versuch wird viel-
leicht sehr schlecht ausfallen: Du bringst es einfach nicht fertig, die Haustür dir zu ver-
gegenwärtigen, durch die du täglich hindurchgehst! Morgen wirst du sie dir ansehen, und
morgen abend wird sie dann besser im Gedächnis stehen. Hast du auf diese Weise eine
gewisse Fertigkeit erlangt, dann versuche, ob du weisst, welche Gestalten sich auf dem
Rafaelschen Gemälde der Sixtinischen Madonna befinden, oder wie die Wolken auf dem bunten
Steindrucke aussehen, der bei euch im Schlafzimmer hängt!
IV.
Die Frage, ob ein Bild „natürlich“ sei, das heisst, ob es als richtige Wiedergabe der
Wirklichkeit gelten darf, kann nur von Leuten beurteilt werden, die die Wirklichkeit in ihrem
Gedächtnis tragen. Sie können vergleichen. Zwei Mädchen stehen vor einem Bild und
sprechen zueinander: solchen rötlichen Himmel gibt es nicht! 0 doch, es gibt ihn, ich habe
ihn schon einmal irgendwo gesehen! Wo war denn das? Wie soll ich noch wissen, wo ich
einen roten Himmel gesehen habe?! — Diese Mädchen empfinden richtig, dass man vor den
Werken der Maler hilflos ist, wenn man nicht einen gewissen Schatz von Vergleichsmaterial
in sich trägt. Von jetzt ab werden sie,aufpassen, ob der Himmel rötlich ist oder violett
oder sonstwie anders, und im nächsten Jahr werden sie mit grösserer Sicherheit sich
ein Urteil erlauben dürfen, wenn ihnen ein Maler einen sonderbaren Himmel hinhängt.
V.
Jedes Bild, wenn es nicht ganz schlecht ist, erzählt dem Beschauer seine Entstehungs-
geschichte, wenn man mit der Frage anfängt: was mag an diesem Bilde den Maler wohl
 
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