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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — 3.1909

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Heft VI (Juni 1909)
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Kolb, Gustav: Die Organisationsarbeit des Stadtschulrats Dr. Kerschensteiner in München, [3]: ein Bericht über das Münchner Fortbildungsschulwesen sowie über den Handarbeits- und Zeichenunterricht der Münchner Volksschulen
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https://doi.org/10.11588/diglit.33469#0093

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stände aus dem täglichen Gebrauch gewählt werden, „die beim Vorzeigen aus der
Ferne alle wesentlichen Merkmale unverkürzt in einer Hauptansicht erkennen und sich
ohne Verwertung perspektivischer Ausdrucksmittel charakteristisch darstellen lassen“.
Für Klasse V ist als Lehrstoff vorgesehen:
1. Krummlinige Formen (Apfel, Birne, Kirsche, Beerenfrüchte, Ei, Pflaume,
Zwiebel, Räder, Turmuhr, Handspiegel, Zwicker, Brillen etc.).
2. Geradlinige F o r m e n (Schiefertafel, Hefte, Kuverten, Lineal, Winkeldreiecke,
Papierdrachen, Papierhut, Zimmerfenster, Zimmertüren, Leiter etc.)
3. Gemischtlinige Formen (Beil, Hammer, Zange, Schere, Schlüssel, Messer,
Gabel, Säge, Wiegmesser, Schaufel, Wappen- und Schlachtschilde etc.)
4. Einfache Blattformen (Flieder, Winde, Leberblümchen, Haselwurz, Pfeilkraut,
Eiche, Efeu, Ahorn etc.)
Die ausgestellten Lehrgänge dieser Klasse gaben zu viel Missverständnissen
Anlass, insofern die Arbeiten als Zeichnungen nach dem Gegenstand selbst auf-
gefasst wurden. Scheute man indessen die Mühe nicht und verglich die verschiedenen
Lehrgänge der verschiedenen Schulen miteinander, so fand man indessen bald, dass
das nicht der Fall war. Sämtliche Aepfel,
Birnen, Rettiche, Kirschen u. s. w. sahen
einander zum Verwechseln ähnlich, gleichviel
ob der Urheber Schüler der Schule an der
Wort- oder Wittelsbacherstrasse, oder ob
der Lehrgang einer Mädchenschule ent¬
stammte. Wie nun die Formen selbst auf¬
gefasst waren, das zeigt besser als Worte
eine Skizze, die ich in der Ausstellung
fertigte (Abb. 1). Man sieht daraus, dass
diese schematischen Formen eine eigentümliche dekorative Stilisierung zeigen , die
sich in Einzelheiten sehr weit von dem Naturvorbild entfernt. Mir dämmerte all-


mählich die Erkenntnis, dass diese Formen, die der kindlichen
Auffassung wenig entsprechen (vergl. die Wiedergabe des Butzen Abbildung 2.
bei Apfel und Birne) in keiner Weise kindliche Produkte dar¬
stellten, sondern den Schülern gewissermassen diktiert worden
sein mussten und zwar musste eine Zentrale bestehen, in der
diese Gewächse gezüchtet und als Normen an sämtliche Schulen
weitergegeben werden, eine Annahme, die ich bei meinem Besuch
der Schulen voll bestätigt fand.
Sämtliche Zeichnungen dieser Stufe waren sehr gross mit
Kohle auf Packpapier gezeichnet. Meist waren sie mit Pastell¬
stifte gefärbt und zwar in der Weise, dass neben dem Umriss ein
Rand ausgespart wurde. (Vergl. Skizze auf Abb. 2, der schraierte
Teil ist auf den Zeichnungen mit Pastellstiften angegeben).
Diese Darstellungsart, die durch den ganzen Schulbetrieb
beibehalten und in allen Schulen gleichermassen gehandhabt wird,
befremdete mich. Als ich die Schulen selbst besuchte, und mich
über den Zweck dieser Vorstellungsart befragte, erhielt ich überall
zur Antwort: „Der Rand wird ausgespart, damit der Kohlenstrich, den die Schüler
mit soviel Mühe hergestellt haben, geschont bleibt“. Diese Erklärung, die mir
übrigens auch der Zeicheninspektor gab, schien mir nicht ausreichend zu sein, umso
mehr als ich diese Manier in dem durch den ganzen Münchner Volksschulzeichen-
unterricht durchgehenden dekorativen Z ug begründet glaubte. Doch ich werde
später auf diesen Punkt zurückkommen. Zu dem Stoffkreis von Kl. V gehören,
wie schon oben angeführt, auch die „einfachen Blattformen“. Der Lehrplan be-
stimmt hiep:
„Dem Uebergang zum Abzeichnen dienen die einfachen Blattformen. Aus einer
Mehrzahl von Blättern gleicher Art soll unter Besprechung das Typische festgestellt werden,
etwa nach dem Schema: a) Verhältnis von Höhe und Breite, b) Gesamtform, c) Einteilung
der Gesamtform durch Bippen und Lappen, d) Hauptform der Rippen und Lappen, e) Blatt-
rand. Tn ähnlicher Weise wird dann auch bei der Darstellung von Blüten, Fischen, Federn,
flachen Muscheln und Schneckengehäusen verfahren.“
 
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