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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — 3.1909

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Heft VI (Juni 1909)
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Kolb, Gustav: Die Organisationsarbeit des Stadtschulrats Dr. Kerschensteiner in München, [3]: ein Bericht über das Münchner Fortbildungsschulwesen sowie über den Handarbeits- und Zeichenunterricht der Münchner Volksschulen
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https://doi.org/10.11588/diglit.33469#0094

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76

Merkwürdig ist nun aber, dass mit Kl. VI das Zeichnen nach der Natur, das
kaum begonnen hat, eine jähe Unterbrechung erfährt. Der Lehrplan bestimmt für
diese Klasse zunächst Pinselübungen (der Kommastrich in Reihungen, Stern-
formen, Rosetten, Bordüren, Ecklösungen, Streuungen). Mit diesem Lehrstoff setzt
das Ornamentieren ein, das in den Münchner Volksschulen, wie die Aus-
stellung zeigte, eine hervorragende Rolle spielt. Zumal in den Mädchenklassen
bildet es geradezu den Kern des Zeichenunterrichts überhaupt. Und es muss an-
erkannt werden, dass die Münchner diese Spezialität mit bewundernswertem Geschick
und Geschmack ausgebildet haben.

Abbildung 3.

Die Ausstellung enthielt nicht nur eine Menge

von „papierenen Ornamenten“, sondern der Nach-
druck wurde auf die Vorführung von Gegen-
ständen selbst gelegt, die von Kinderhänden
aufs trefflichste mit Schmuckformen versehen waren:
Teller, Schachteln, Kerzen, Bucheinschläge aus
Stoff, Federhalter, Griffel, Eier, Schreibmappen,
Serviettenringe, Serviettentaschen, Schürzen und
anderem mehr. Im Verlauf des Unterrichts werden
Naturformen, die als Klassenaufgabe behandelt
wurden, zu Ornamenten verwendet, also z. B. die

Mistel oder das Leberblümchen zu Bordüren oder Vorsatzpapieren. Ich schrieb mir
beim Besuch der Schulen das Jahrespensum für die VI. Mädch enklass e auf:

I. September, Oktober, No-

Abbildung 4.

v e m b e r: der Pinselabdruck (a. Vor-
übungen, b) Verwertung zu Bordüren,
Schmücken von Tellerrand und Vorsatz-
papier, c. Freiübungen). II. Dezember,
Januar, Februar: der Schatten-
riss (a. Uebungen nach Pflanzenformen,
b. Verwertung zu Bordüren [Pflaume, Ei,
Rettich, Birne, Apfel, Blatt des Leber-
blümchens, des Flieder, der Haselwurz,
des Efeu, der Kastanie, der Eiche]
c. Verwertung zu Vorsatzpapieren). III.



März u. April: der Schmetterling

(Kohlweissling, Schwalbenschwanz, Bär).
Anwendung zu Bordüren und Vorsatz-
papier. IV. Mai: die Feder und ihre
Anwendung. V. Juni u. Juli: der
Käfer (Maikäfer, Bock, Hirschkäfer).

b

Anwendung in Bordüren, Vorsatzpapier,
Buchdeckel.



K. hat mit dieser Art von

Ornamentieren sein Prinzip der
praktischen Arbeit mit grossem

Erfolg auch auf den Zeichenunter-
richt übertragen, und die ausgestell¬

ten Arbeiten sowie meine Beobachtungen in den Schulen selbst überzeugten mich,
dass die Gestaltungskraft und -lust der Schüler auf diese Weise wenigstens nach
einer Seite hin ausserordentlich geweckt wird. Und zwar hat sich auch hier, wie
mir der Leiter des Münchner Volksschulzeichenunferrichts, Inspektor S teigerwald,
mitteilte, der alte Erfahrungssatz bestätigt: „Je zurückhaltender der Lehrer
mit seinen eigenen Vorführungen ist, je produktiver wird das Kind?“

Selbstverständlich hängt das Gelingen derartiger Versuche sehr von der Per-
sönlichkeit des betr. Lehrers ab. K. war sich das auch bei Aufstellung seines
Lehrplans wohl bewusst, darum enthält der Lehrplan den Hinweis: „Die Stellung
solcher Aufgaben setzt einen künstlerisch wolil durchgebildeten Geschmack des
Zeichenlehrers voraus.“

Nun sah man in der Ausstellung höchst selten ein geschmackloses Ornament,
woraus ich schliesse, dass die Kultur des Auges bei den Münchner Lehrern nach
 
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