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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — 3.1909

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Heft VI (Juni 1909)
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Muthesius, Hermann: Wohnungskultur, [4]
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https://doi.org/10.11588/diglit.33469#0101

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Hörigkeitszeit ist heute wieder in aller Munde, in einer Zeit, wo ein freies Men-
schentum sich über veraltete Institutionen und Vorurteile längst erhoben hat. Es
herrscht eine geradezu ängstliche Sucht, die natürlichen Verhältnisse zu übertünchen,
sich zu verkünsteln, sich gewaltsam ins Talmi- Aristokraten tum zu erheben. Wir
scheinen uns gerade dessen zu schämen, was unser Stolz sein sollte, unseres Bürger-
tums. Wir wollen Aristokraten sein in dem Augenblicke, wo das Bürgertum zur
Basis für unsere wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse
geworden ist, wo es sich zu einer solchen Höhe erhoben hat, dass es die Kultur
unserer Zeit bestimmt.

Macht man sich alle diese Verhältnisse klar, für die übrigens das am späte-
sten in die deutsche Kultur eingetretene Norddeutschland, an seiner Spitze Berlin,

den Ton angibt, so begreift man
die Stellung, die unser heutiges
Publikum der neuen kunstge-
werblichen Bewegung gegenüber
eingenommen hat. Ging diese
im Grunde ihres Wesens auf
eine Veredlung aus, die doch
stets eine Verinnerlichung, ein
Abstreifen der formalistischen
Unwesentlichkeiten bedeutet, so
herrschte hier gerade das ge-
schilderte Streben nach dem
Aeusserlichen und Repräsen-
tativen vor. War dort die Ein-
fachheit und Echtheit das Ziel,
so war es hier das Pomphafte
und Renommistische, bei dem
es mit dem Echten nicht allzu
genau genommen wurde. Spielte
sich doch das Treiben in wirt-
schaftlichen Verhältnissen ab,
in denen die Unechtheit, der
Schein, geradezu zur Bedingung
werden musste. Ein totales
Missverstehen dessen, was die
neue Bewegung wollte, musste
die Folge sein. Und sie ist es
gewesen. Natürlich hielt man
darauf, in jeder Beziehung das


Neueste zu haben und so musste
man auch das Neueste in der

Schildtafel für ein Münchner städt. Gebäude. Schülerarbeit der Fach-
klasse für Bildhauer der Gewerbeschule München (Leiter K. Killer).

Wohnungs-Ausstattung haben,
sich modern“ einrichten. Das Resultat war der Jugendstil: die Anpassung
der Industrie an die Gesinnung des Publikums. Nun haben wir die
alte Gesinnung in neuem Gewände, eine neue Mode, die sich für den modernen
Stil ausgibt, einen neuen Maskenscherz, eine neue Unwahrheit. Das war aber auf
dem Kulturboden, auf dem unser deutsches Bürgertum heute steht, nicht anders
zu erwarten, es musste so kommen. So lange sich unsere Gesinnung nicht ver-
edelt, kann sich unsere Kunst nicht veredeln, eine veräusserlichte Kultur kann
keine verinnerlichte Kunst haben.

Und doch, wenn die Anzeichen nicht trügen, ist eine Besserung der Ver-
hältnisse schon im Werden. An verschiedenen Ecken regt sich der Missmut,
viele empfinden das heutige Scheinwesen als Druck und Zwang. Es hat den Am
schein, dass eine Sehnsucht nach Schlichtheit und Natürlichkeit die Herzen mancher
erfüllt, die nur noch nicht den Mut haben, aus dem Maskenaufzuge unserer Schein-
 
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