Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Bund Deutscher Kunsterzieher [Editor]
Kunst und Jugend — 3.1909

DOI issue:
Heft VI (Juni 1909)
DOI article:
Muthesius, Hermann: Wohnungskultur, [4]
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.33469#0102

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
84

kultur herauszutreten. Ja, eine kleine Gemeinde ist bereits im Begriff, sich abzu-
sondern und ihr eigenes persönliches Leben zu führen. Es ist klar, dass hier zu-
nächst nur die geistig Führenden in Betracht kommen können, wie denn die Kultur
stets nur von wenigen gemacht worden ist. Die Leute mit vorwiegend intellektuellen
Interessen, die geistig Produzierenden, die Künstler, Gelehrten, Denker, überhaupt
die selbständigen Charaktere auf jedem Gebiete, sie bilden heute schon den Keim
einer solchen Gemeinde, die es darauf ankäme durch Werbung zu verstärken, um
die zerstreuten Fleckchen Kulturerde zu einem geschlossenen reinen Kulturboden
zu vereinigen, auf dem eine neue, edlere und echtere Kultur in grösserm Umfang
erspriessen könnte. Organisationen im grösseren Massstabe arbeiten auf dasselbe
Ziel hin, so vor allem der Dürerbund, dem es vielleicht gelingt, auf breiterem
Boden die Herzen des deutschen Volkes für die Ideale der kleinen Gemeinde zu öffnen.
Eine solche Gemeinde würde dann führend wirken und zwar in der ganz all-
gemeinen Art einer echten Gesinnung und der reinen, sachlichen Betätigung auf
allen Gebieten des Lebens und in allen Aeusserungen des persönlichen Wollens.
Eine geschlossene Liga gegen die Scheinkultur, eine geistige Aristokratie, die be-
rufen wäre, über die Schätze des geistig Edelsten in unserem Volkscharakter zu
wachen, die guten Anlagen in ihm zu entwickeln, die schlechten Neigungen zu be-
schneiden. Die echten Bürgertugenden, die sich bei den Deutschen früher gezeigt
haben, die in der Zeit der Not zu grossen Taten ermannten, in der Zeit der Ar-
mut wenigstens durch Schlichtheit und Treue bedeutend waren, sie sollten in der
Zeit des beginnenden Wohlstandes nicht durch Parveniitum verdunkelt und erstickt
werden. Die jetzige Lage des Wohlergehens ist auch ein Prüfstein und ein feinerer
als jeder andere. Wie sich Charakter und Gesinnung des einzelnen erst dadurch
im wirklich grossen Lichte zeigen, dass sie auch, wenn Glück und Macht eintritt,
einfach und gütig bleiben, so bewährt sich die Kultur eines Volkes dadurch, dass
sie auch im Reichtum edel und nach innen gerichtet bleibt.
Diese Gemeinde würde dann unter anderem ganz von selbst darauf halten, dass
die Gastlichkeit wieder die frühere einfache und natürliche Form annähme. Der
Wirt würde seine Besucher in seine intimere Häuslichkeit führen, er würde im
kleinen Kreise, in dem eine Aussprache und ein gegenseitiges Kennenlernen mög-
lich ist, eine anspruchslose und heitere Geselligkeit pflegen, er würde den Fremden,
der sich einfindet, aufnehmen und zum Bleiben auffordern, er würde seinen Gästen
das vorsetzen, was seinen Verhältnissen entspricht und überhaupt darauf halten,
dass das Durchschnittsgesicht seines Haushaltes vor dem Gaste nicht allzusehr
verändert aufträte.
Wären aber erst unsere Verkehrsformen und unsere Geselligkeit geändert, so
fiele eine wesentliche Bedingung für die heutige vielfach anfechtbare Art unseres
Wohnens weg. Unsere städtische Etage ist hauptsächlich auf das Gesellschafts-
geben eingerichtet: die Reihe von Prunkräumen für Abendgäste ist auf Kosten
eines im höchsten Masse zusammengequetschten Restes von Raum für das Schlafen,
Kochen, Baden und das Aufbewahren von Hausgerät erreicht. Da vorn geht die
Scheinkultur vor sich, die Hausbetriebsräume sind obskur und werden nicht gezeigt.
Wie anders würde eine lediglich nach den Bedürfnissen des angenehmen und be-
haglichen Wohnens angelegte Wohnung aussehen! Behaglich wohnen heisst vor
allem gesund wohnen. Deshalb wäre alles Gewicht auf die Wohn-, Schlaf- und
Betriebsräume des Hauses und sehr wenig oder gar keins auf die Repräsentations-
räume zu legen. Küche, Spülküche, Vorratskammer, Bad, Ankleidezimmer wären
reichlich zu bemessen. Das beste Zimmer der Wohnung hätte das Kinder-
zimmer, das zweitbeste das Schlafzimmer zu sein.
Freilich, wenn man die verfügbaren Quadratmeter in dieser Weise aufteilen
wollte, wo blieben denn dann die Räume, in denen man eine Tischgesellschaft von
24 Personen geben könnte? Diese Frage berührt eben gerade den wunden Punkt
unserer Verhältnisse. Wer nur 200 Quadratmeter Bodenfläche sein eigen nennt,
sollte gar nicht auf den Gedanken verfallen, eine solche Tischgesellschaft zu geben,
er überlasse sie dem fürstlichen Haushalte. Aber die Sache hängt noch an einem
 
Annotationen