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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — 3.1909

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Heft IX (September 1909)
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Schwarz, E.: Das Zeichnen in der Volksschule und seine Verwertung im Unterricht, [2]: Vortrag des Herrn Zeichenlehrers E. Schwarz Karlsruhe, gehalten am 23. Mai d.J. bei der Generalversammlung des badischen Zeichenlehrervereins in Gengenbach
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https://doi.org/10.11588/diglit.33469#0144

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er nimmt aus der Erde, wohin ihm seine Glieder gefallen sind, diese Kraft wieder
in sich auf, um neu zu treiben und zu knospen.
Und aus dem Regen, der herniederfällt, saugen die Wurzeln Saft auf und
verarbeiten ihn, und der Saft steigt in die Höhe und schwillt nach aussen, und
an den Zweigen setzen sich Punkte an, und wenn die Sonnenstrahlen heraus-
kommen und sie fallen lächelnd auf diese Punkte, und küssen sie lebendig mit
ihren wärmenden und belebenden Strahlen, dann fangen diese Punkte an, sich zu
regen und zu strecken, und sie dehnen sich aus nach allen Richtungen! Die Knospen
entfalten sich, das Blatt spriesst hervor, und heraus tritt eine wunderbar gestaltete
Blüte, die wie eine brennende Kerze nach oben sich richtet; bald steht der Baum
da in seiner ganzen lebendigen Herrlichkeit, und wie schützend auf den Händen
tragen die Blätter diese leuchtenden Kerzen!
Ist das nicht auch ein Bild der Auferstehung in der Natur?
Wieviele Gedanken und Gefühle werden durch eine solch einfache Beschrei-
bung in den Kinderherzen ausgelöst; sie erleben diese Phasen des Vergehens und
Wiedererstehens gleichsam mit dem Baume; ihr Gemüt gerät in Schwingungen,
ihr inneres und äusseres Auge wird geöffnet, sie werden zum Schönheitsempfinden
angeregt.
Wir gehen zurück ins Klassenzimmer. Der Lehrer nimmt einen Zweig mit
voll entwickelten Knospen mit. Er öffnet eine Knospe vor den Augen der Schüler
und zeigt ihnen, wie alles keimartig in der Knospe enthalten ist, was demnächst
offenbar sein wird!
Er leitet die Gedanken hinüber auf alle andern lebendigen Wesen, den Men-
schen eingeschlossen, und lässt die Schüler erkennen, dass alles in der Natur eine
Entwicklung ist, dass im Innersten eines jeden Dinges gleichsam der Knäuel aller
Triebe und Fähigkeiten latent liegt und nur darauf harrt, unter günstigen Be-
dingungen aufgewickelt, ent—wickelt zu werden.
Und wenn jetzt die Schüler versuchen, den Baum und seine Teile zu zeichnen,
so werden sie mit einem ganz anderen Interesse an ihre Arbeit herantreten, als
wenn Sie ihnen einfach sagen, zeichnet das und das! Jetzt ist der Baum zu einem
lebendigen Wesen geworden, mit dem der Schüler gleichsam Gedanken austauscht;
beide treten in einen Verkehr; es ist eine lebendige Brücke gebaut, hinüber und
herüber! —
Wie die wärmenden Strahlen der Sonne die Dinge der Natur in ihre liebenden
Arme schliessen und zur Entfaltung bringen, so muss auch die Liebe und die Hin-
gebung des Lehrers und Erziehers die Kräfte und Fähigkeiten der ihm anver-
trauten Menschenblüten zur Entfaltung zu bringen suchen.
Und wie der Künstler aus dem rohen Marmorblock, in dem er geistig sein
Werk schon fertig vor sich sieht, seine Statue bildet, so sollen auch wir bilden
das Kunstwerk der Menschenseele!
Bilden heisst: ein Bild machen. Der Schüler soll befähigt werden, sich recht
viele Bilder von den Dingen machen zu können, und je mehr ein Mensch fähig ist,
sich von den Dingen ein klares, richtiges Bild machen zu können, desto gebildeter
wird er sein! Und gebildet sein, beisst geniessen können!
Wir müssen die Kinder befähigen, selbständig solche Bilder durch Ueber-
legen und Suchen herauszufinden; denn Suchen allein bringt Gewinn! Wir
müssen es den Kindern aber auch als eine natürliche Notwendigkeit erscheinen
lassen, als etwas ganz Selbstverständliches, sich, sobald sie der Erziehung der Schule
und der Eltern entwachsen sind, selbstweiterzubilden, sich sei b st zu erzieh en !
Dies gilt aber auch für uns Erwachsene und ganz besonders für uns Lehrer.
Was jemand durch eigenes Suchen gefunden hat, ist ihm zum inneren Erlebnis,
zum ureigensten Eigentum geworden, und er kann es jederzeit, weil ers inwendig
weiss, auch nach aussen tragen!
Ich kann mir von allem, was ich mit dem inneren Auge geschaut, ein Bild
machen, und ich kann dieses Bild, auch wenn ich ein ungeübter Zeichner bin,
richtig zeichnen, ich bedarf dazu keiner Vorlage!
 
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