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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — 3.1909

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Heft X (Oktober 1909)
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Faut, Theodor: Entwicklungsstufen im Zeichenunterricht: (Erläuterungen der Abbildung Seite 133)
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https://doi.org/10.11588/diglit.33469#0156

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132

Blatt und Figur durchaus falsch sind. Stellen wir einen Jungen hinaus vor die
Klasse, etwa auf' den Tisch des Lehrers und geben ihm eine Stachelbeere in die
Hand: In diesem Massstab hat die Beere die Grösse eines Punktes. Ist die Skizze
des Lehrers (2. Leihe hinten) auch noch lange kein Kunstwerk, so hat sie doch
den Zweck nicht ganz verfehlt. So viel haben Schüler und nicht zum wenigsten
der Lehrer gemerkt, dass eine menschliche Figur viel zu schwer ist, um „richtig“
gezeichnet werden zu können.
B. Wir müssen froh sein, wenn wir nur eine Stachelbeere fertig bringen. Das
ist unsere Hauptaufgabe. (Aufgabe A wurde in etwa 10 Minuten gezeichnet.)
Jeder Schüler bekommt eine Beere, zunächst zum Ansehen, nachher zum Essen.
Er hält sie mit der linken Hand gegen das Fenster oder gegen einen hellen Hinter-
grund und fährt mit der rechten Hand dem Umriss in der Luft nach; dann ge-
schieht dasselbe mit dem Stift auf dem Papier. (Dies ist schon ein Akt des Ge-
dächtniszeichnens.) Es muss jetzt die Notwendigkeit einer senkrechten Achse ein-
gesehen werden. Der Lehrer zeichnet zunächst einmal das Falsche vor. Dies
sehen die Schüler sofort. Warum nicht die eigenen Fehler? Nicht einmal einen
senkrechten Strich können die durch die schräge Schreibschrift verdorbenen Anfänger
machen! Also vorzeichnen, üben! Verfehlt wäre es aber, die Schüler länger als
10 Minuten damit zu plagen. Die Uebung kehrt bei andern Aufgaben immer wieder!
C. Nach diesen Zwischenübungen sollten nun aber einige gut hängende Beeren
gezeichnet werden. Also betrachtet die Beere nochmals genau! Ziehet zuerst
eine Senkrechte! Die Beere soll nun eine bestimmte Grösse haben! Höhe etwa
2 Fingerbreiten. Lasst alle Striche stehen, also nichts radieren! Wer fertig ist,
betrachtet seine Zeichnung aus der Ferne — vergleicht sie nochmals mit der Natur
und beginnt eine neue Form. Die Aufgabe wird erschwert dadurch, dass auch
eine Breite bestimmt wird. Die grösste Breite wird meist auf einer wagrechten
Mittellinie liegen. Zeichnet zwei gleich grosse Beeren! Genau genommen gibt es
keine zwei ganz gleiche Beeren. Aber die feinen Unterschiede könnt ihr doch
nicht zeichnen. Welches ist die gemeinsame Grundform? Oval. Nennet andere
Dinge mit dieser Grundform! Zeichnet zum Schluss grosse Ovale (Höhe etwa wie
der Zeigefinger).
Skizzen 1, 2, 3: Inzwischen haben die Schüler des 3. Zeichenjahres, vielleicht
auch die Besserbegabten des 2. Jahres das Blatt der Stachelbeere zu zeichnen
versucht. Schon die Vorstellungszeichnungen sind etwas weniger schematisch —
mehr „erscheinungs- oder formgemäss“. Dies zeigt die kleine Skizze 1. Wir be-
obachten ferner, dass die älteren Schüler ihre Darstellungen auf einen kleineren
Vorstellungskreis beschränken. Vor der menschlichen Figur schrecken viele zurück,
weil sie sich inzwischen bewusst wurden, wie schwer es ist. Wir werden dies also
einerseits zu verstehen suchen, andernteils aber auch zu neuen Versuchen anspornen,
wozu am meisten das Beobachten und die Vorzeichnung des Lehrers beiträgt.
Skizze 2 entstand ohne Beeinflussung des Lehrers nach der Natur. Sie ist relativ
schlechter als Skizze 1, und wir finden die alte Erfahrung immer wieder bestätigt:
„Die Darstellung aus der Vorstellung gelingt beim Kinde besser, als die Darstellung
nach der Natur.“ Aber ist dies bloss bei Kindern der Fall? Die primitiven
Kunstepochen aller Völker haben alle mehr Grosszügigkeit, als etwa die Anfänge
bewussten Schaffens nach der Natur. Der Anfänger bleibt eben an den Einzel-
heiten hängen. Somit ist es die wichtigste Aufgabe des Lehrers, immer wieder
auf die Hauptformen aufmerksam zu machen, z. B. bei 3: Zuerst die Hauptrippen
zeichnen, dann die Hauptlappen, und zuletzt erst die kleinen Zäckchen.
D. Nun sind zum Schluss alle Schüler empfänglich dafür, zu sehen, was der
Lehrer kann. Der Zweig unten bedeutet ja gewiss keine besondere künstlerische
Leistung. Er leidet unter einer gewissen Starrheit, Absichtlichkeit, was wohl daher
rührt, dass er besonders für Schüler gezeichnet wurde. Manche Blätter wurden
gewaltsam zuvor entfernt, z. B. verrunzelte oder solche, die Wesentliches verdeckt
oder die rhythmische Ausfüllung der Fläche gestört hätten. Ueber die Berechtigung
des Vorzeigens solcher „Musterzeichnungen1 könnte man streiten. Ein andermal
 
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