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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — 3.1909

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Heft XI (November 1909)
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Berger, Ernst: Ein Studienkurs in Besigheim
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https://doi.org/10.11588/diglit.33469#0171

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Verkleinerungen Täuschungen betreffs der perspektivischen Entfernungen hervor-
rufen. Nur der mit den Erfahrungen vieler Jahre ausgerüstete Künstler dürfe
sich Verschiebungen und Veränderungen der Massen erlauben.*)
Herr Luntz riet den Teilnehmern, vor den malerischen Uebungen einige ge-
naue Zeichnungen zu machen. Das war eine harte Arbeit, an den verfallenden
Mauern jeden Stein, an den Dächern jeden Ziegel, an den alten Weidenstämmen
jede Rindenfurche, an den Zweigen jedes Blättchen genau der Natur entsprechend
wiederzugeben — aber eine gesunde Schule war es; da haben unsere Augen erst
sehen gelernt und die Zinsen von diesem angelegten Kapital durften wir in den
folgenden Wochen sofort einheimsen. Neben der Schulung des Auges kam bei
diesen Studien die künstlerische Förderung nicht zu kurz. Wir lernten die Art
der künstlerisch empfundenen Linie erkennen: „Nie darf eine Linie zwei Deutungen
zulassen; aus der Art der Linienführung muss man erkennen, ob es sich hier z.B. um
die Ranken einer Rebe oder um den Zweig eines Obstbaumes handelt.“ „Die
Linie, welche eine Ziegelreihe eines Daches angibt, muss so geführt sein, dass man
erkennt, wo Ziegel schief stehen, wo sie in die Höhe ragen, wo sie mit Moos be-
wachsen sind usw., ohne dass jeder Ziegel einzeln durchgezeichnet ist.“ „Linien,
die gegen die Luft stehen, sind anders zu zeichnen als solche, die sich von einem
dunklen Hintergrund hell abheben.“ Die angeführten Worte zeigen, dass Herr
Luntz ein Doppeltes erstrebte: volles Verständnis für die Linienführung und feines
Empfinden für den Liniencharakter.
Wollte man die Zeichnungen mit Buntstift höhen, so empfahl uns Herr Luntz
möglichst sparsame Verwendung des Materials: „Der Buntstift darf den Charakter
der Zeichnung als solcher nicht verwischen; zur genauen Wiedergabe der Farb-
wirkungen der Natur besitzen wir die Farben.“
In der zweiten Woche begannen alle mit den Malstudien. Gesündigt wurde
vor allem in Oel, einige verlegten sich ausschliesslich auf das Aquarell. Wenn
irgend ein Ort geeignet ist, zu erkennen, dass die farbigen Erscheinungen beeinflusst
werden durch Luft und Licht, so ist es Besigheim. Eine weite Luft, Fernsichten,
gibt es dort nicht. Im Städtchen steht man unmittelbar vor den Motiven und vom
Neckar- und Enzufer aus schliesst die hochgebaute Stadt das Gesichtsfeld ab.
Verhältnismässig nur wenig Luft steht zwischen Beschauer und Gegenstand, aber
was für eine Luft: ganz erfüllt von Wasserdunst und vom flimmerden Licht, das
von den Wasserspiegeln zurückgeworfen wird. Eine solche Luft lässt keine Härten
zu, alle Konturen stehen unendlich weich, alle Flächen in feinstem Anschluss zum
Luftton! Dazu die immer wechselnden Farben der alten Mauern, die wunderbaren
Dächer, die tiefen, glänzenden Farben im Wasser. — Da gab es manche Nüsse
zu knacken, Nüsse, die mehr moralischen Katzenjammer verursachten als der saure
Besigheimer physischen. Immer und immer wieder lautete die Kritik: „Der Farb-
ton hier ist ja wohl annähernd richtig, aber er wirkt wie angestrichen, er leuchtet
nicht, es liegt keine Luft darauf. Sehen Sie, das ist die gleiche Sache, wie wenn
ein Anfänger im Violinspielen das E auf der leeren E-Saite herunterstreicht. Der
Ton ist recht, der geübte Spieler aber nimmt ihn in der Lage, lässt ihn leicht
vibrieren und erreicht dadurch eine ganz andere Klangwirkung. In ähnlicher Weise
muss der Farbton zum Klingen gebracht werden.“ Wohl zeigte uns Herr Luntz,
wie man dieses „Klingen“ des Farbtones am gegebenen Motive hervorbringen könne,
er betonte aber immer: „Wichtiger als das Erlernen solcher technischen Kniffe ist
das richtige Empfinden. Nur aus dem Empfinden heraus können Sie bestimmen,
ob dieser Luftton z. B. steht oder nicht, ob dieses Wasser fliesst usw. Aus dem
Empfinden heraus wird die Technik erzwungen.“ Ueberhaupt war Herr Luntz be-
müht, uns nicht seine Ansicht und seine Malweise aufzuzwingen, sondern die Eigen-
art zu schonen und zu entwickeln. Als Vorbild, sagte er oft, habe er stets seinen
*) Herrn Luntz war es anfangs um das Prinzip zu tun, die unbedingte Respektierung der
Natur. Dies hinderte ihn aber nicht, uns später bei gegebenen Motiven direkt zu raten, eine
Verschiebung (aber nicht Veränderung) der Massen vorzunehmen.
 
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