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Kunst der Nation
vogel, Lautensack, Deutsch, kann
beinahe allein nur mit ihrem
graphischen Schaffen belegt
werden, Dürers innerstes Wesen
ist weniger an seinen Gemäl-
den, die der Konvention und
Zeitgebundenheit größere Zu-
geständnisse machen, zu erschlie-
ßen, als aus der privateren,
freischöpferischen Sphäre seiner
Holzschnitte, Kupferstiche und
Handzeichnungen, und der in
seinen Altarbildern eintönige
und trockene Cranach entfaltet,
außer in wenigen frühen Bild-
nissen und Gemälden kleinen
Formats, seine wirkliche Natur
ganz nur in seiner Zeichnung
und Graphik.
Eine Epoche wichtigster
Kunst- und Formentwicklung
wird in den ausgestellten Blät-
tern des Berliner Kabinetts
offenbar: der Übergang von
gotischer Eestaltungsweise zu
renaissancehafter formaler Aus-
geglichenheit bis zu deren Über-
windung in der malerisch-
manieristischen, vorbarocken
Form der Spätgotik. Es ist
nicht nur die Entwicklung einer
.Persönlichkeit, sondern die
einer Epoche, die aus dem
Vergleich der zwei zeitlich aus-
einanderliegenden farbigen
Landschaftszeichnungen Dürers,
der frühen ,,Drahtziehmühle"
und der Kalckreuther Landschaft
der mittleren Zeit, offenbar
wird. In dem erstgenanten
Blatt überwiegt die Freude am
Zuständlichen, die sinnlich-far-
bige Naturanschaung wird zu-
gunsten einer linear-plastischen
Formgestaltung zurückdrängt,
mit einer mikroskopischen Klein-
teiligkeit und sachlichen Ge-
nauigkeit wird der Struktur
des Landschaftsbildes nach-
gegangen, das Erlebnis wird
Ausgeglichenheit und Harmonie, bedeuten innerhalb der
deutschen „Renaissance" einen Grad anthropozentrischen
Persönlichkeitskults, zu dem Dürer selbst in seinen am meisten
unter italienischem Einfluß stehenden Bildnissen nicht ge-
langen konnte. Seine Bildnisse zeigen eine innerlich tiefere
Verwandtschaft zu Porträts Lucas Cranachs des Älteren,
wie dem herrlichen Männerkopf des Berliner Kabinetts, der
um 1510 entstanden sein dürfte (siehe Abbildung). Hier sind
alle Elemente nordischer Bildnisauffassung enthalten: neben
der Nüchternheit und Kühle der Beobachtung ein heroisie-
render Adel, ein von Innen nach Außen Dringen, Aufbau
des Gesichtes aus der psychologischen Struktur, aus dem
menschlich erlebten Wesen, Darstellung des Einzelfalls. Von
diesem Bildnis gilt Dürers Wort, das auf der Erkenntnis
der Abstraktion von der sinnlich-farbigen Erscheinung der
Natur beruht: „Alle Kunst steckt in der Natur; wer sie
heraus kann reißen, der hat sie." W. R. Deusch
Der Kulturwille der jungen Generation
Fortsetzung von Seite 1
Jeder Wille umfaßt Anfang und Ziel, das
heißt: Inhalte und ihre Formgebung. Die
junge Generation, die zu einer Syn-
these der deutschen Nation aus den
Gegebenheiten des Nationalsozia-
lismus gelangen will, muß in der
Verinnerlichung von Norden und
Süden das Bewußtsein der zukünf-
tigen deutschen Kultur getragen
sehen. Daß eine solche Bereitschaft dem Willen
der vergangenen Zeit absolut entgegengesetzt ist,
wird jeder einsehen, der weiß, wie Deutschland in
den Jahren der Demokratie zwischen dem Westen
und dem Osten, zwischen der Sensibilität des fran-
zösischen Rationalismus und der slawischen Ge-
fühlsschwere, vergeblich versuchte, zu einer das
deutsche Volk verpflichtenden Bindung vorzu-
stoßen. Die westlich-romanischen Kulturen sind
Kristallisationen, feststehende, unveränderliche Auf-
fassungen von einer in sich ruhenden Statik, all-
gemein ausgedrückt: architekturale Kulturen. Ihr
Vorbild beherrschte jahrhundertelang den deut-
schen Geist, der sich dann später auch in demselben
Maße zu der grenzcnvcrwischenden, gefühls-
Nikolaus Manuel Deutsch, Phantasie-Landschaft
Berlin, Kupferstichkabinett
trunkenen Weite der russischen Seele hingezogen
glaubte. Es war ein Kampf um die Selbst-
behauptung, aber auch um zwei grundverschiedene
Prinzipien: um Statik und Dynamik, um Kristal-
lisation und Bewegung. Er mußte zum Untergang
L »caKCla >Iqch d. Ä., Mii»»c>kqpf. Berlin, .«»pscrstichkabincii "'ch' d" Ecjamtanschau-
ung, sondern aus dem nachschas-
fenden Prozeh gewonnen. Die
spätere Kalckreuth-Landschaft dagegen beseelt ein Gefühl für
die Weite und Einheit der Welt, das dem Raume die Herr-
schaft über das Reich des Körperlichen zumeist: in breiten
Zügen, mit rein malerischen Mitteln, in absoluter Unter-
ordnung des Einzelnen unter den Eesamteindruck, im Jn-
einandergreifen der Einzelform wird beinahe visionär eine
malerische Gestaltungskraft offenbar, die im Gegensatz zu
früher den unendlichen Raum, die universale Fülle zu ge-
stalten sucht. Diese Landschaftsauffassung bleibt mahgebeud
für die Meister der kommenden Generation: sie findet ihre
stärkste Manifestation in Blättern des der Donau-Schule zu-
zurechncuden Wolf Suber, der in einer Flut von Licht und
Schatten das verwirrende Vielerlei ertränkt (flehe Ab-
bildung), oder in den Sandzeichnungcn der Schweizer Meister
Urs Gras, Hans Leu und Nikolaus Manuel Deutsch (siehe
Abbildung), deren eckige und schwere Formen ausgelockert
werden durch das phantastische Erleben der Natur, die, Re-
aktionsbewegung auf die objektiv-naturalistische Entwicklung,
bizarr-eigenwillig umgcdeutet wird und von märchenhaft ge-
heimnisvollen Lebewesen bevölkert ist. Der Sinn für das
Tatsächliche schwindet, schmucklose Niederschrift und vrasen-
tvse ruuycyeit. wervea.'Tmd—vel eMoorfer, ltinuer'Möyr^Ai-
gunsten rein malerischer Effekte zuriickgedrängt, durch eine
subjektive Auffassung ersetzt, die wie ein frühes Vorweg-
nehmen romantischen Gedankenguts anmutet.
Außerhalb dieser Entwicklungslinie steht die mystisch-
religiös durchglühte, ganz auf bebenden, fließenden Farb-
ausdruck eingestellte Zeichnung Grünewalds, stehen die Bild-
nisse des älteren und jüngeren Holbein, deren lineare Form-
gestaltung eine auffallend geringe Wandlungsfähigkeit ver-
raten. Ihre klassische Monumentalität und breite plastische
Wirkung, die kühle und ruhige Erhabenheit und die ratio-
anschauung die strenge Form, erweckt die Phan-
tasie und naturverwurzelte Kraft des Schöpfers
das Gefüge der Berge, Täler und Wälder zu
einem neuen, eigenen Leben, das aus scheinbarer
Starrheit erwacht, alles Wesenhafte einbezieht und
übergreift auf das kleinste Lebewesen, das un-
scheinbarste menschliche Geschöpf, das selbst Ergeb-
nis des landschaftlichen Erlebens wird.
Das Berliner Kupferstich-Kabinett kann mit seinen
Schätzen an deutschen Handzeichnungen der Blütezeit um 1500,
deren Meisterblätter in einer Sonderschau ausgestellt sind,
lOkus nationutsorinlistiscke Oeutseklanck bat
-1-^ keinen anckeren Wuosek, als äen Wettlauk
lier europäiscken Völker vvieäer auk ckie Lebiete
binrmlenken, suk ckenen sie <ler ganzen Nensck-
keit in rler erielsten AeZenseitixen Rivalität
iene uneckörten Röter ^öer ^iviözation.
Kultur unct Kunst ne^eken baden, ckie ckas Itilck
«ler Welt beute bereicbern unck versckönern.
ä^ckolk Hitler
Len ganzen unerschöpflichen Reichtum deutscher Formgestaltung
darbieten. Die Graphik ist die ureigentlichste Bildkunst des
Nordens, die in keinem anderen Lande neben den übrigen
künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten eine auch nur annähernd
vergleichbare Stellung einnimmt. Unsere Wertung manches
Künstlers der Zeit um 1ö0v, der Landschafter Huber, Hirsch-
nale Bewußtheit der Bildnisse des jüngeren Holbein, ihre
Wolf Huber, Landschafts-Aquarell. Berlin, Kupserstichkabinctt
Die Madonna der Wendenanna
Fast eine Legende
von
Andreas Duck
Als die Wendenanna von einem Gelüste ihrer
Mutterschaft nach dem ersten grünen Salat auf
den Frühmarkt des kleinen Städtchens getrieben
wurde, wo die Bamberger Hökerin die Kostbar-
keiten der Frühbeete in einer riesigen Schenze feil-
hielt, brachte sie durch ihren schwangeren Leib die
weiblichen Gemüter in eine Aufregung, wie wenn
die Hornisse unter die Bienen gerät. Und als sie
mit ihrem Hinkfuß und ihren verschobenen Hüften,
die sich in ihrer hohen Schwangerschaft ganz un-
menschlich gebärdeten, wieder zum Mittleren Tor
hinausgehumpelt war, dauerte es noch lange, bis
sich der Bienenschwarm vor einer solchen Sünde
beruhigte. Auch wenn man der Anna nichts Un-
rechtes nachsagen konnte, als daß sie mit ihren
sünfunddreißig Jahren durch ihren Krüppel-
zustand ein armes, aber fleißiges und immer
munteres Ding gewesen war, so schien es doch un-
begreiflich, wie ein so sauberer Mensch wie der
Heiner, der um Jahre jünger war als sie, an
einem solchen Gestell von Weibsbild hängen
bleiben und sie noch dazu heiraten konnte. Und
während sich manch frommer Stoßseufzer mit ge-
wisperten Heimlichkeiten weiblicher Lüsternheit
mischte, löste sich der Schwarm in die Selbst-
gefälligkeit einer alten Weisheit auf, daß jeder
schlafe, wie er sich bette. Und mancher schlafe im
Ehebett so gut, weil er mit der Heiligen auch die
Kapelle ergatterte, lachte die Hökerin mit den
Händen über den mächtigen Bauch, der wie ein
faules Tier im fleischigen Gebreite der schweren
Schenkel lag.
Wenn einer gewagt hätte, Heiner diese Zwei-
deutigkeit ins Gesicht zu sagen, er hätte ihn
niedergeschlagen mit seiner breiten Hand, in der
sonst die Güte selber lag. Er war ein Arbeiter
in der Fabrik, tüchtig und zuverlässig in seinem
Bereich, und das Bauerngütlein draußen am
Rand des Städtchens, das ihm mit der Anna zu-
gefallen war, betreute er mit der gleichen Sorg-
falt des Erhalters und Vermehrers, wie er seinem
Herrn ein besorgter Helfer blieb. So heiratete er
auch nicht die Kapelle, wie der Volksmund sagt,
wenn einer die Frau in Kauf nimmt, falls das
Gut ihn lockt. Er liebte Anna wie einer, der
glücklich ist, wenn er helfen kann und wo man
seiner bedarf. Und so war er auch an sie ge-
kommen in jener Hellen Augustnacht des letzten
Sommers, wo sie bis nm die Mitternachtsstunde
der ausgelassenen Fröhlichkeit der Tanzenden zu-
sah und die große Traurigkeit ihres aufgewühlten
Blutes wie ein Schrei um Hilfe vor einem leeren
Leben in seine Mannheit drang. Und seit jener
Stunde saß ihr ein Gefühl rührender Dankbar-
keit in allen Winkeln der Seele, wach und zu
allem bereit, von der vorbehaltlosen Hin-
gabe bis zur Entsagung und heimlichem
Spiel mit dem Tod, so daß Heiner, davon
erfüllt, an ihr hängen blieb mit der Sauber-
keit und Behaglichkeit eines stillen Glücks, das ihm
das Notwendige mit Sicherheit und ohne Be-
denken tun hieß: der werdenden Mutter das Nest
der Unantastbarkeit zu bereiten und es ihr warm
zu halten mit der Blutsnähe seiner Vaterschaft.
Und weil er ein so einfacher Mensch war, hatte
sich auch äußerlich in seinem Leben nicht viel ver-
ändert bis zum heutigen Tag, nur daß er am
frühen Morgen und am Abend nach der Arbeit
in seinem Betrieb Anna gern zur Hand ging, die
das erwartete Kind schon ins achte Monat trug
und bei aller seelischen Wendigkeit doch manchmal
recht unbeholfen den hundert Handgriffen in
Küche und Stall gegcnüberstand. So schlief
Heiner wirklich gut in seinem Ehebett, nur in
einem anderen Sinn, als die Hökerin spottete, weil
die Heilige mit dem Strahlenkranz einer großen
Liebe gesegnet und die Kapelle zu einem Heilig-
tum des Geheimnisses von Mann und Weib ge-
worden war.
Den Zustand ihrer Mutterschaft trug Anna
ohne Bedenken jeglicher Gefahr, wie sie über-
haupt zeitlebens trotz der Verbildung ihres Leibes
keine Zimperlichkeit kannte und der Arzt ein
Fremdling bei den Wenden war. Und wenn das
Kinderkriegen schon kein Honiglecken sei, — das
Heer der Millionen seit Eva her, die es aus-
gehalten haben und recht gut dabei sich weiberten,
wie sie an den spindigsten Dingern sehen konnte,
stimmte sie heiter und machte sie Wohl auch ge-
lustig jenes Tags. Doch hatte sie keine Eile und
konnte warten und tat es heimlich gern, weil sie
mit ihrer Mutterschaft zwei Monate zu spät ins
Ehebett kam, wo die bürgerliche Ehrbarkeit die
Wochen zu zählen beginnt, die bei ihr bereits ab-
gelaufen waren. So kam es, daß Anna mitten in
der Maienblüte sich selbst überraschte und bei
ihrem verschlossenen Leib in ein Kindbett kam, bei
dem der Tod bis zum neunten Tage nicht aus der
Kammer wich, weil er sich mit den blutigen Fetzen
eines kleinen, rebellisch gewordenen Menschen-
wesens nicht zufrieden geben wollte.
In diesen neun Tagen hatte Heiner die Selig-
keit eines Leids erlebt, daß in seine Augen der
Glanz eines überirdischen Geschehens gekommen
war, und seine breiten braunen Hände waren
weiß geworden. Die linke, weil sich Anna
krampfhaft daran festhielt von ihrer Stunde, bis
der Tod grämlich aus der Stube schlich und in die
fiebernde Befangenheit der Sinne langsam der
alltägliche Glanz der Dinge und Erinnerungen
fiel; die rechte, weil sie nach jeder sorglichen Hand-
reichung unter die Decke auf den eingefallenen
Leib zurückkroch, aus einer tieferen Ahnung her-
aus das Wunder der Heilung zu tun. Doch als
ihre Augen zum erstenmal in gelockerter Hilf-
losigkeit die Kammer abtasteten, die inzwischen zu
einer Krankenstube umgestellt worden war, so daß
die stillende Madonna eines alten Meisters, die
sonst zu Häupten des Bettes hing, in ihre
suchenden Blicke kam, — da löste sich der Krampf
ihrer Hände, nestelte mit aufgeschreckter Unruhe
das Hemd für die linke Brust zurecht, schob die
Decke des Bettes zurück und nahm Heiners Hand,
die ihr willig folgte, sachte und behutsam wie
ein Kindlein an die Brust. Und während sie noch
nachhelfen wollte und schon die Lippen bewegte,
gut zuzureden, glitten ihre Blicke von der Hand
ab, den Arm entlang, bis sie wie aus einer weiten
Ferne in den seltsamen Glanz zweier Augen als
eine unausgesprochene Erkenntnis untertauchten
und hilflos darin versanken. Und als Heiner
Anna in seiner gütigen Art getröstet und in den
ersten beruhigenden Schlaf hineingestreichelt hatte,
lag ein Häuflein geretteten Elends neben ihm.
Der Arzt, der ein rauher Mann gewesen, war
an einem der folgenden Tage mit dem Zustand
der Kranken ganz besonders zufrieden und ver-
sprach sich die Gesundung mehr von der Zeit als
von seinen unnötigen Gängen. Und weil er
seiner Zufriedenheit auch Ausdruck geben wollte
in seiner Art, konnte er es sich nicht versagen, ihr
ein wenig die Leviten zu lesen. Die Weiber seien
nun einmal das Kreuz der Männer und die Arzte
die geschlagensten von allen. Wenn die Kröte
rechtzeitig das Maul aufgetan und zu ihm ge-
kommen wäre, hätte man es mit dem Kaiserschnitt
versuchen können, das Jngeräusch sei gut und
wer eine solche Tortur überstehe, den könne man
ohne Bedenken ein paar Stunden auf den
Operationstisch legen, wenn auch die Sicherheit
des Erfolges noch nicht so einfach wie das
„Andere" sei. Und Wenns mit ihr auch wieder
ginge, müßten sie schon beide die Hand von der
Putte lassen, weil er dann nicht verantworten
möchte, was diesmal vielleicht die Hilfe für das
Kind gewesen wäre. Doch als der Doktor eine
Träne niederrollen sah, griff er eilig nach der
Hand der jungen Frau, den Mut nicht zu ver-
lieren, weil, — wenn schon einmal — dem Übel
ja auch an der Wurzel abzuhelfen sei. Aber die
Träne galt gar nicht den Worten des Arztes und
wie sie gemeint waren, die verstand sie gar nicht
recht ans ihrer körperlichen Schwäche und Heiner
sollte erst ihr Deuter sein: was sie innerlich so
bewegte, war das Gefühl einer Schuld an ihrem
Kind und die leise Beglückung, wenigstens von
einem Menschen dafür gescholten worden zu sein,
weil der Arzt in ihren Augen nur ein rauher,
aber ein gerechter Richter gegen sie war. Und
als Heiner den Arzt vor das Hoftor begleitete
und sonst noch einige vertraute Worte nach
Männerart zu hören bekam, löste sich bei Anna
zum erstenmal der Fluß der Tränen über ihr ver-
lorenes Glück, wobei die Madonna durch den
Flimmerglanz der Tränen so überirdisch nahe ans
sie zugewandelt kam, daß sie ihr Kind wie eine
Segnung und einen Trost über ihre Schmerzens-
schwester hielt.
Die Sonne des Sommers brachte die Kranke
langsam wieder auf die Beine, wenn auch das
Gangwerk noch recht wackelig war; doch das
Futter und die gute Luft halfen nach, daß Anna
wieder zu Kräften kam, zu keinem Überschuß
zwar, doch so, daß der Winter ohne Beschwerden
verging und das Früjahr ein ganz rüstiges Weibs-
bild in den kleinen Wirtschaftsbetrieb hineinstellte,
der in seinen vielerlei Kleinigkeiten eine Summe
täglichen Umtriebs an Menschenkraft erforderte.
Aber Anna ließ sich keine Schwachheit spüren und
ging dem Leerlauf der Regentage durch das Ge-
werke! in Küche und Haus aus dem Weg, daß
Heiner manchmal bremsen mußte mit der ruhigen
Kunst der Nation
vogel, Lautensack, Deutsch, kann
beinahe allein nur mit ihrem
graphischen Schaffen belegt
werden, Dürers innerstes Wesen
ist weniger an seinen Gemäl-
den, die der Konvention und
Zeitgebundenheit größere Zu-
geständnisse machen, zu erschlie-
ßen, als aus der privateren,
freischöpferischen Sphäre seiner
Holzschnitte, Kupferstiche und
Handzeichnungen, und der in
seinen Altarbildern eintönige
und trockene Cranach entfaltet,
außer in wenigen frühen Bild-
nissen und Gemälden kleinen
Formats, seine wirkliche Natur
ganz nur in seiner Zeichnung
und Graphik.
Eine Epoche wichtigster
Kunst- und Formentwicklung
wird in den ausgestellten Blät-
tern des Berliner Kabinetts
offenbar: der Übergang von
gotischer Eestaltungsweise zu
renaissancehafter formaler Aus-
geglichenheit bis zu deren Über-
windung in der malerisch-
manieristischen, vorbarocken
Form der Spätgotik. Es ist
nicht nur die Entwicklung einer
.Persönlichkeit, sondern die
einer Epoche, die aus dem
Vergleich der zwei zeitlich aus-
einanderliegenden farbigen
Landschaftszeichnungen Dürers,
der frühen ,,Drahtziehmühle"
und der Kalckreuther Landschaft
der mittleren Zeit, offenbar
wird. In dem erstgenanten
Blatt überwiegt die Freude am
Zuständlichen, die sinnlich-far-
bige Naturanschaung wird zu-
gunsten einer linear-plastischen
Formgestaltung zurückdrängt,
mit einer mikroskopischen Klein-
teiligkeit und sachlichen Ge-
nauigkeit wird der Struktur
des Landschaftsbildes nach-
gegangen, das Erlebnis wird
Ausgeglichenheit und Harmonie, bedeuten innerhalb der
deutschen „Renaissance" einen Grad anthropozentrischen
Persönlichkeitskults, zu dem Dürer selbst in seinen am meisten
unter italienischem Einfluß stehenden Bildnissen nicht ge-
langen konnte. Seine Bildnisse zeigen eine innerlich tiefere
Verwandtschaft zu Porträts Lucas Cranachs des Älteren,
wie dem herrlichen Männerkopf des Berliner Kabinetts, der
um 1510 entstanden sein dürfte (siehe Abbildung). Hier sind
alle Elemente nordischer Bildnisauffassung enthalten: neben
der Nüchternheit und Kühle der Beobachtung ein heroisie-
render Adel, ein von Innen nach Außen Dringen, Aufbau
des Gesichtes aus der psychologischen Struktur, aus dem
menschlich erlebten Wesen, Darstellung des Einzelfalls. Von
diesem Bildnis gilt Dürers Wort, das auf der Erkenntnis
der Abstraktion von der sinnlich-farbigen Erscheinung der
Natur beruht: „Alle Kunst steckt in der Natur; wer sie
heraus kann reißen, der hat sie." W. R. Deusch
Der Kulturwille der jungen Generation
Fortsetzung von Seite 1
Jeder Wille umfaßt Anfang und Ziel, das
heißt: Inhalte und ihre Formgebung. Die
junge Generation, die zu einer Syn-
these der deutschen Nation aus den
Gegebenheiten des Nationalsozia-
lismus gelangen will, muß in der
Verinnerlichung von Norden und
Süden das Bewußtsein der zukünf-
tigen deutschen Kultur getragen
sehen. Daß eine solche Bereitschaft dem Willen
der vergangenen Zeit absolut entgegengesetzt ist,
wird jeder einsehen, der weiß, wie Deutschland in
den Jahren der Demokratie zwischen dem Westen
und dem Osten, zwischen der Sensibilität des fran-
zösischen Rationalismus und der slawischen Ge-
fühlsschwere, vergeblich versuchte, zu einer das
deutsche Volk verpflichtenden Bindung vorzu-
stoßen. Die westlich-romanischen Kulturen sind
Kristallisationen, feststehende, unveränderliche Auf-
fassungen von einer in sich ruhenden Statik, all-
gemein ausgedrückt: architekturale Kulturen. Ihr
Vorbild beherrschte jahrhundertelang den deut-
schen Geist, der sich dann später auch in demselben
Maße zu der grenzcnvcrwischenden, gefühls-
Nikolaus Manuel Deutsch, Phantasie-Landschaft
Berlin, Kupferstichkabinett
trunkenen Weite der russischen Seele hingezogen
glaubte. Es war ein Kampf um die Selbst-
behauptung, aber auch um zwei grundverschiedene
Prinzipien: um Statik und Dynamik, um Kristal-
lisation und Bewegung. Er mußte zum Untergang
L »caKCla >Iqch d. Ä., Mii»»c>kqpf. Berlin, .«»pscrstichkabincii "'ch' d" Ecjamtanschau-
ung, sondern aus dem nachschas-
fenden Prozeh gewonnen. Die
spätere Kalckreuth-Landschaft dagegen beseelt ein Gefühl für
die Weite und Einheit der Welt, das dem Raume die Herr-
schaft über das Reich des Körperlichen zumeist: in breiten
Zügen, mit rein malerischen Mitteln, in absoluter Unter-
ordnung des Einzelnen unter den Eesamteindruck, im Jn-
einandergreifen der Einzelform wird beinahe visionär eine
malerische Gestaltungskraft offenbar, die im Gegensatz zu
früher den unendlichen Raum, die universale Fülle zu ge-
stalten sucht. Diese Landschaftsauffassung bleibt mahgebeud
für die Meister der kommenden Generation: sie findet ihre
stärkste Manifestation in Blättern des der Donau-Schule zu-
zurechncuden Wolf Suber, der in einer Flut von Licht und
Schatten das verwirrende Vielerlei ertränkt (flehe Ab-
bildung), oder in den Sandzeichnungcn der Schweizer Meister
Urs Gras, Hans Leu und Nikolaus Manuel Deutsch (siehe
Abbildung), deren eckige und schwere Formen ausgelockert
werden durch das phantastische Erleben der Natur, die, Re-
aktionsbewegung auf die objektiv-naturalistische Entwicklung,
bizarr-eigenwillig umgcdeutet wird und von märchenhaft ge-
heimnisvollen Lebewesen bevölkert ist. Der Sinn für das
Tatsächliche schwindet, schmucklose Niederschrift und vrasen-
tvse ruuycyeit. wervea.'Tmd—vel eMoorfer, ltinuer'Möyr^Ai-
gunsten rein malerischer Effekte zuriickgedrängt, durch eine
subjektive Auffassung ersetzt, die wie ein frühes Vorweg-
nehmen romantischen Gedankenguts anmutet.
Außerhalb dieser Entwicklungslinie steht die mystisch-
religiös durchglühte, ganz auf bebenden, fließenden Farb-
ausdruck eingestellte Zeichnung Grünewalds, stehen die Bild-
nisse des älteren und jüngeren Holbein, deren lineare Form-
gestaltung eine auffallend geringe Wandlungsfähigkeit ver-
raten. Ihre klassische Monumentalität und breite plastische
Wirkung, die kühle und ruhige Erhabenheit und die ratio-
anschauung die strenge Form, erweckt die Phan-
tasie und naturverwurzelte Kraft des Schöpfers
das Gefüge der Berge, Täler und Wälder zu
einem neuen, eigenen Leben, das aus scheinbarer
Starrheit erwacht, alles Wesenhafte einbezieht und
übergreift auf das kleinste Lebewesen, das un-
scheinbarste menschliche Geschöpf, das selbst Ergeb-
nis des landschaftlichen Erlebens wird.
Das Berliner Kupferstich-Kabinett kann mit seinen
Schätzen an deutschen Handzeichnungen der Blütezeit um 1500,
deren Meisterblätter in einer Sonderschau ausgestellt sind,
lOkus nationutsorinlistiscke Oeutseklanck bat
-1-^ keinen anckeren Wuosek, als äen Wettlauk
lier europäiscken Völker vvieäer auk ckie Lebiete
binrmlenken, suk ckenen sie <ler ganzen Nensck-
keit in rler erielsten AeZenseitixen Rivalität
iene uneckörten Röter ^öer ^iviözation.
Kultur unct Kunst ne^eken baden, ckie ckas Itilck
«ler Welt beute bereicbern unck versckönern.
ä^ckolk Hitler
Len ganzen unerschöpflichen Reichtum deutscher Formgestaltung
darbieten. Die Graphik ist die ureigentlichste Bildkunst des
Nordens, die in keinem anderen Lande neben den übrigen
künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten eine auch nur annähernd
vergleichbare Stellung einnimmt. Unsere Wertung manches
Künstlers der Zeit um 1ö0v, der Landschafter Huber, Hirsch-
nale Bewußtheit der Bildnisse des jüngeren Holbein, ihre
Wolf Huber, Landschafts-Aquarell. Berlin, Kupserstichkabinctt
Die Madonna der Wendenanna
Fast eine Legende
von
Andreas Duck
Als die Wendenanna von einem Gelüste ihrer
Mutterschaft nach dem ersten grünen Salat auf
den Frühmarkt des kleinen Städtchens getrieben
wurde, wo die Bamberger Hökerin die Kostbar-
keiten der Frühbeete in einer riesigen Schenze feil-
hielt, brachte sie durch ihren schwangeren Leib die
weiblichen Gemüter in eine Aufregung, wie wenn
die Hornisse unter die Bienen gerät. Und als sie
mit ihrem Hinkfuß und ihren verschobenen Hüften,
die sich in ihrer hohen Schwangerschaft ganz un-
menschlich gebärdeten, wieder zum Mittleren Tor
hinausgehumpelt war, dauerte es noch lange, bis
sich der Bienenschwarm vor einer solchen Sünde
beruhigte. Auch wenn man der Anna nichts Un-
rechtes nachsagen konnte, als daß sie mit ihren
sünfunddreißig Jahren durch ihren Krüppel-
zustand ein armes, aber fleißiges und immer
munteres Ding gewesen war, so schien es doch un-
begreiflich, wie ein so sauberer Mensch wie der
Heiner, der um Jahre jünger war als sie, an
einem solchen Gestell von Weibsbild hängen
bleiben und sie noch dazu heiraten konnte. Und
während sich manch frommer Stoßseufzer mit ge-
wisperten Heimlichkeiten weiblicher Lüsternheit
mischte, löste sich der Schwarm in die Selbst-
gefälligkeit einer alten Weisheit auf, daß jeder
schlafe, wie er sich bette. Und mancher schlafe im
Ehebett so gut, weil er mit der Heiligen auch die
Kapelle ergatterte, lachte die Hökerin mit den
Händen über den mächtigen Bauch, der wie ein
faules Tier im fleischigen Gebreite der schweren
Schenkel lag.
Wenn einer gewagt hätte, Heiner diese Zwei-
deutigkeit ins Gesicht zu sagen, er hätte ihn
niedergeschlagen mit seiner breiten Hand, in der
sonst die Güte selber lag. Er war ein Arbeiter
in der Fabrik, tüchtig und zuverlässig in seinem
Bereich, und das Bauerngütlein draußen am
Rand des Städtchens, das ihm mit der Anna zu-
gefallen war, betreute er mit der gleichen Sorg-
falt des Erhalters und Vermehrers, wie er seinem
Herrn ein besorgter Helfer blieb. So heiratete er
auch nicht die Kapelle, wie der Volksmund sagt,
wenn einer die Frau in Kauf nimmt, falls das
Gut ihn lockt. Er liebte Anna wie einer, der
glücklich ist, wenn er helfen kann und wo man
seiner bedarf. Und so war er auch an sie ge-
kommen in jener Hellen Augustnacht des letzten
Sommers, wo sie bis nm die Mitternachtsstunde
der ausgelassenen Fröhlichkeit der Tanzenden zu-
sah und die große Traurigkeit ihres aufgewühlten
Blutes wie ein Schrei um Hilfe vor einem leeren
Leben in seine Mannheit drang. Und seit jener
Stunde saß ihr ein Gefühl rührender Dankbar-
keit in allen Winkeln der Seele, wach und zu
allem bereit, von der vorbehaltlosen Hin-
gabe bis zur Entsagung und heimlichem
Spiel mit dem Tod, so daß Heiner, davon
erfüllt, an ihr hängen blieb mit der Sauber-
keit und Behaglichkeit eines stillen Glücks, das ihm
das Notwendige mit Sicherheit und ohne Be-
denken tun hieß: der werdenden Mutter das Nest
der Unantastbarkeit zu bereiten und es ihr warm
zu halten mit der Blutsnähe seiner Vaterschaft.
Und weil er ein so einfacher Mensch war, hatte
sich auch äußerlich in seinem Leben nicht viel ver-
ändert bis zum heutigen Tag, nur daß er am
frühen Morgen und am Abend nach der Arbeit
in seinem Betrieb Anna gern zur Hand ging, die
das erwartete Kind schon ins achte Monat trug
und bei aller seelischen Wendigkeit doch manchmal
recht unbeholfen den hundert Handgriffen in
Küche und Stall gegcnüberstand. So schlief
Heiner wirklich gut in seinem Ehebett, nur in
einem anderen Sinn, als die Hökerin spottete, weil
die Heilige mit dem Strahlenkranz einer großen
Liebe gesegnet und die Kapelle zu einem Heilig-
tum des Geheimnisses von Mann und Weib ge-
worden war.
Den Zustand ihrer Mutterschaft trug Anna
ohne Bedenken jeglicher Gefahr, wie sie über-
haupt zeitlebens trotz der Verbildung ihres Leibes
keine Zimperlichkeit kannte und der Arzt ein
Fremdling bei den Wenden war. Und wenn das
Kinderkriegen schon kein Honiglecken sei, — das
Heer der Millionen seit Eva her, die es aus-
gehalten haben und recht gut dabei sich weiberten,
wie sie an den spindigsten Dingern sehen konnte,
stimmte sie heiter und machte sie Wohl auch ge-
lustig jenes Tags. Doch hatte sie keine Eile und
konnte warten und tat es heimlich gern, weil sie
mit ihrer Mutterschaft zwei Monate zu spät ins
Ehebett kam, wo die bürgerliche Ehrbarkeit die
Wochen zu zählen beginnt, die bei ihr bereits ab-
gelaufen waren. So kam es, daß Anna mitten in
der Maienblüte sich selbst überraschte und bei
ihrem verschlossenen Leib in ein Kindbett kam, bei
dem der Tod bis zum neunten Tage nicht aus der
Kammer wich, weil er sich mit den blutigen Fetzen
eines kleinen, rebellisch gewordenen Menschen-
wesens nicht zufrieden geben wollte.
In diesen neun Tagen hatte Heiner die Selig-
keit eines Leids erlebt, daß in seine Augen der
Glanz eines überirdischen Geschehens gekommen
war, und seine breiten braunen Hände waren
weiß geworden. Die linke, weil sich Anna
krampfhaft daran festhielt von ihrer Stunde, bis
der Tod grämlich aus der Stube schlich und in die
fiebernde Befangenheit der Sinne langsam der
alltägliche Glanz der Dinge und Erinnerungen
fiel; die rechte, weil sie nach jeder sorglichen Hand-
reichung unter die Decke auf den eingefallenen
Leib zurückkroch, aus einer tieferen Ahnung her-
aus das Wunder der Heilung zu tun. Doch als
ihre Augen zum erstenmal in gelockerter Hilf-
losigkeit die Kammer abtasteten, die inzwischen zu
einer Krankenstube umgestellt worden war, so daß
die stillende Madonna eines alten Meisters, die
sonst zu Häupten des Bettes hing, in ihre
suchenden Blicke kam, — da löste sich der Krampf
ihrer Hände, nestelte mit aufgeschreckter Unruhe
das Hemd für die linke Brust zurecht, schob die
Decke des Bettes zurück und nahm Heiners Hand,
die ihr willig folgte, sachte und behutsam wie
ein Kindlein an die Brust. Und während sie noch
nachhelfen wollte und schon die Lippen bewegte,
gut zuzureden, glitten ihre Blicke von der Hand
ab, den Arm entlang, bis sie wie aus einer weiten
Ferne in den seltsamen Glanz zweier Augen als
eine unausgesprochene Erkenntnis untertauchten
und hilflos darin versanken. Und als Heiner
Anna in seiner gütigen Art getröstet und in den
ersten beruhigenden Schlaf hineingestreichelt hatte,
lag ein Häuflein geretteten Elends neben ihm.
Der Arzt, der ein rauher Mann gewesen, war
an einem der folgenden Tage mit dem Zustand
der Kranken ganz besonders zufrieden und ver-
sprach sich die Gesundung mehr von der Zeit als
von seinen unnötigen Gängen. Und weil er
seiner Zufriedenheit auch Ausdruck geben wollte
in seiner Art, konnte er es sich nicht versagen, ihr
ein wenig die Leviten zu lesen. Die Weiber seien
nun einmal das Kreuz der Männer und die Arzte
die geschlagensten von allen. Wenn die Kröte
rechtzeitig das Maul aufgetan und zu ihm ge-
kommen wäre, hätte man es mit dem Kaiserschnitt
versuchen können, das Jngeräusch sei gut und
wer eine solche Tortur überstehe, den könne man
ohne Bedenken ein paar Stunden auf den
Operationstisch legen, wenn auch die Sicherheit
des Erfolges noch nicht so einfach wie das
„Andere" sei. Und Wenns mit ihr auch wieder
ginge, müßten sie schon beide die Hand von der
Putte lassen, weil er dann nicht verantworten
möchte, was diesmal vielleicht die Hilfe für das
Kind gewesen wäre. Doch als der Doktor eine
Träne niederrollen sah, griff er eilig nach der
Hand der jungen Frau, den Mut nicht zu ver-
lieren, weil, — wenn schon einmal — dem Übel
ja auch an der Wurzel abzuhelfen sei. Aber die
Träne galt gar nicht den Worten des Arztes und
wie sie gemeint waren, die verstand sie gar nicht
recht ans ihrer körperlichen Schwäche und Heiner
sollte erst ihr Deuter sein: was sie innerlich so
bewegte, war das Gefühl einer Schuld an ihrem
Kind und die leise Beglückung, wenigstens von
einem Menschen dafür gescholten worden zu sein,
weil der Arzt in ihren Augen nur ein rauher,
aber ein gerechter Richter gegen sie war. Und
als Heiner den Arzt vor das Hoftor begleitete
und sonst noch einige vertraute Worte nach
Männerart zu hören bekam, löste sich bei Anna
zum erstenmal der Fluß der Tränen über ihr ver-
lorenes Glück, wobei die Madonna durch den
Flimmerglanz der Tränen so überirdisch nahe ans
sie zugewandelt kam, daß sie ihr Kind wie eine
Segnung und einen Trost über ihre Schmerzens-
schwester hielt.
Die Sonne des Sommers brachte die Kranke
langsam wieder auf die Beine, wenn auch das
Gangwerk noch recht wackelig war; doch das
Futter und die gute Luft halfen nach, daß Anna
wieder zu Kräften kam, zu keinem Überschuß
zwar, doch so, daß der Winter ohne Beschwerden
verging und das Früjahr ein ganz rüstiges Weibs-
bild in den kleinen Wirtschaftsbetrieb hineinstellte,
der in seinen vielerlei Kleinigkeiten eine Summe
täglichen Umtriebs an Menschenkraft erforderte.
Aber Anna ließ sich keine Schwachheit spüren und
ging dem Leerlauf der Regentage durch das Ge-
werke! in Küche und Haus aus dem Weg, daß
Heiner manchmal bremsen mußte mit der ruhigen