Titel Künstler zuerkannt hat. Der Streit der Meinungen hatte nun begonnen, und in allen Ländern
haben wir einen oft ritterlichen, manchmal bitteren Streit beobachtet zwischen den Verfechtern des
neuen Gedankens und den Parteigängern der alten Lehre.
In Frankreich hat ein einflussreicher Kritiker von unbestreitbarer Bedeutung, Herr Robert de la
Sizeraune, muthig zu Gunsten der photographischen Kunst seine ‘Stimme erhoben und in einem kürzlich
von der Revue des Deux Mondes veröffentlichten meister-
haften Aufsatze die Nichtigkeit der Ansprüche nachgewiesen,
welche eine allzu oft eigennützige Kritik den hohen An-
sprüchen derjenigen entgegenstellte, die als Fürsprecher der
künstlerischen Bewegung für die Photographie einen Platz
in den Höhen forderten, wo die Kunst als Alleinherrscherin
gebietet. In prachtvollem, bilderreichem Styl hat er den
Stand der so leidenschaftlich aufregenden Frage dar-
gelegt und meisterlich denjenigen den Prozess gemacht,
die noch im Namen der Kunst wider die Bestrebungen
der Photographie auftreten könnten.
Freimüthig hat Herr de la Sizeraune zunächst die
Beschwerden aufgezählt, die man gegen die Photographie
vorzubringen sich für berechtigt halten kann, nämlich ihre
Uebertreibung der Perspektive, ihre übermässig genaue
Wiedergabe der Einzelheiten. Er beeilt sich aber auch,
auszusprechen, dass man deswegen nicht die Photographie,
sondern die Photographen anklagen muss, die zu wenig
Rücksicht auf die künstlerische Wirkung nehmen und nur
die handwerksmässige Vollendung suchen. Diese Mängel,
sagt der gelehrte Kritiker, liegen keineswegs in dem be-
nutzten Werkzeug, sondern „im Gegentheil in dem Sub-
jektivsten, in dem Ausübenden: in seinem falschen Schön-
heitsgefühl. Man gebe diesem Photographen einen Bleistift
und er wird beim Zeichnen dieselben Fehler machen, die er
mit der Linse gemacht hat. Man gebe einem. Künstler diese
Linse und er wird sie nicht machen.“
Nachdem er die einzelnen Thätigkeiten überblickt
hat, bei deren Verlauf der Künstler persönlich eintritt durch
die Wahl des Gegenstandes, die Entwickelung der Platte
und besonders beim Kopiren, drückt er das Problem
folgendermassen klar aus:
„Die Frage ist also nicht, zu wissen, ob die
Photographie dieselben Eigenschaften wie die anderen Ver-
fahren besitzt, sondern ob sie irgendwelche besitzt, die würdig
sind, mit jenen verglichen zu werden; ob die Rolle des Künstlers dabei wichtig genug ist, um den Anblick
eines Werkes abzuändern, das heisst, ob er oft genug eingreift, damit seinerseits Produktion und nicht
einfach Reproduktion vorliegt und ob er zu der Schönheit der Gegend diejenige eines Gedankens oder
einer Empfindung hinzufügt, die nur ihm gehört.“
Durch eine gedrängte Beweisführung löst er siegreich die gestellte Aufgabe, indem er jeden der
Faktoren erörtert, welche bei der Hervorbringung des photographischen Werkes in Betracht kommen,
und indem er genauer auf die Herstellung des positiven Bildes eingeht, wobei die Persönlichkeit des
Künstlers zum Ausdruck kommt. Besonders bei dieser letzteren Thätigkeit begreift man am besten
das heute immer mehr sich geltend machende Bestreben, sich von den Banden freizumachen, welche
P. Dubrueil, Lille.
Sonnenuntergang.
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haben wir einen oft ritterlichen, manchmal bitteren Streit beobachtet zwischen den Verfechtern des
neuen Gedankens und den Parteigängern der alten Lehre.
In Frankreich hat ein einflussreicher Kritiker von unbestreitbarer Bedeutung, Herr Robert de la
Sizeraune, muthig zu Gunsten der photographischen Kunst seine ‘Stimme erhoben und in einem kürzlich
von der Revue des Deux Mondes veröffentlichten meister-
haften Aufsatze die Nichtigkeit der Ansprüche nachgewiesen,
welche eine allzu oft eigennützige Kritik den hohen An-
sprüchen derjenigen entgegenstellte, die als Fürsprecher der
künstlerischen Bewegung für die Photographie einen Platz
in den Höhen forderten, wo die Kunst als Alleinherrscherin
gebietet. In prachtvollem, bilderreichem Styl hat er den
Stand der so leidenschaftlich aufregenden Frage dar-
gelegt und meisterlich denjenigen den Prozess gemacht,
die noch im Namen der Kunst wider die Bestrebungen
der Photographie auftreten könnten.
Freimüthig hat Herr de la Sizeraune zunächst die
Beschwerden aufgezählt, die man gegen die Photographie
vorzubringen sich für berechtigt halten kann, nämlich ihre
Uebertreibung der Perspektive, ihre übermässig genaue
Wiedergabe der Einzelheiten. Er beeilt sich aber auch,
auszusprechen, dass man deswegen nicht die Photographie,
sondern die Photographen anklagen muss, die zu wenig
Rücksicht auf die künstlerische Wirkung nehmen und nur
die handwerksmässige Vollendung suchen. Diese Mängel,
sagt der gelehrte Kritiker, liegen keineswegs in dem be-
nutzten Werkzeug, sondern „im Gegentheil in dem Sub-
jektivsten, in dem Ausübenden: in seinem falschen Schön-
heitsgefühl. Man gebe diesem Photographen einen Bleistift
und er wird beim Zeichnen dieselben Fehler machen, die er
mit der Linse gemacht hat. Man gebe einem. Künstler diese
Linse und er wird sie nicht machen.“
Nachdem er die einzelnen Thätigkeiten überblickt
hat, bei deren Verlauf der Künstler persönlich eintritt durch
die Wahl des Gegenstandes, die Entwickelung der Platte
und besonders beim Kopiren, drückt er das Problem
folgendermassen klar aus:
„Die Frage ist also nicht, zu wissen, ob die
Photographie dieselben Eigenschaften wie die anderen Ver-
fahren besitzt, sondern ob sie irgendwelche besitzt, die würdig
sind, mit jenen verglichen zu werden; ob die Rolle des Künstlers dabei wichtig genug ist, um den Anblick
eines Werkes abzuändern, das heisst, ob er oft genug eingreift, damit seinerseits Produktion und nicht
einfach Reproduktion vorliegt und ob er zu der Schönheit der Gegend diejenige eines Gedankens oder
einer Empfindung hinzufügt, die nur ihm gehört.“
Durch eine gedrängte Beweisführung löst er siegreich die gestellte Aufgabe, indem er jeden der
Faktoren erörtert, welche bei der Hervorbringung des photographischen Werkes in Betracht kommen,
und indem er genauer auf die Herstellung des positiven Bildes eingeht, wobei die Persönlichkeit des
Künstlers zum Ausdruck kommt. Besonders bei dieser letzteren Thätigkeit begreift man am besten
das heute immer mehr sich geltend machende Bestreben, sich von den Banden freizumachen, welche
P. Dubrueil, Lille.
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