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Kunstblatt.

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Aeber eine alte Bildhauerschule

zu Tournap in den Niederlanden.

Von Prof. G. F. Waagen.

Die Geschichte der Skulptur ist bisher in den Niederlanden
sehr vernachlässigt worden. Dieses kann anch nicht befremden,
denn einmal hat die hoheBlüthe, zu welcher die Malerei daselbst
im löten wie im 17tcn Jahrhundert gelangt ist, und die zahl-
reichen, noch aus beiden Epochen vorhandenen Denkmäler die
Aufmerksamkeit der Kunstfreunde vorzugsweise auf sich gezogen,
und dann sind mit wenigen Ausnahmen alle Hauptwerke der
Skulptur vor dem Iliten Jahrhundert durch die Bilderstürmer im
Jahr 1566 und die Zcrstörungswuth der im Jahr 179g eindrin-
genden Franzosen vernichtet worden. Ich habe daher zur mög-
lichen Ausfüllung dieser Lücke bei meinem jüngsten Aufenthalt
in den Niederlanden mich vielfach nach den noch vorhandenen
Ueberrcstcn der Skulptur umgethan und dadurch die Ueberzeugnng
gewonnen, daß diese Kunst im Großen wie im Kleinen daselbst
schon sehr früh, wahrscheinlich bereits im 9ten Jahrhundert, zur
Ausübung gekommen ist und bereits vom Anfang des 12ten Jahr-
hunderts ab in dem verschiedensten Material, in Bronze, in
Stein, in Holz und in Elfenbein höchst Ausgezeichnetes und Eigcn-
thümliches hervorgebracht hat. Allem Ansehen nach möchte die
Skulptur in Erz und in Stein am frühesten bei den Wallonen
einen hohen Grad von Ausbildung erreicht haben, und erscheinen
wieder Dinant und Tournap als die Mittelpunkte eigenthüm-
licher Schulen. Bei einer den Wallonen eignen, vorzüglichen
Anlage für Skulptur hat ohne Zweifel die schon früh in Gebrauch
gekommene Steinkohle in der Nähe von Dinant sehr viel bei-
getragcn, daß dort vorzugsweise die Skulptur in Erz, sowie ein
bei Tournap in großen Massen dastehender dichter Kalkstein von
graublauer Farbe, und dort pierre bleue genannt, daß dort
besonders die Skulptur in Stein betrieben worden ist.

Bon der Unzahl von Rundwerken, Taufbecken mit Reliefen,
Singpulten, Tabernakeln, Kandelabern u. s. w., welche in Guß,
getriebener und geschmiedeter Arbeit im Lauf der Jahrhunderte
aus den Werkstätten der »hatteurs de Dinant,« wie sich diese
Künstler schlicht und bescheiden nannten, hervorgcgangen, und
welche sämmtlich in Belgien unter dem Namen der »dinanderies«
begriffen werden, ist nur äußerst wenig bis aus unsere Tage ge-
kommen. Unter der noch geringeren Zahl größerer Werke nimmt
das berühmte Taufbecken in der Bartholomäuskirche zu Lüttich
unbedingt die erste Stelle ein. Da ich bei den Lesern dieser
Blätter die Bekanntschaft mit dem, was Schnaase, Burckhardt,
Didron und van Haffelt von diesem Werke gesagt haben, vor-
aussetzen darf, und auch durch die vortrefflichen Abbildungen bei
Didron ' einer näheren Beschreibung überhoben werde, so begnüge
ich mich zu bemerken, daß dieses durch die urkundlichen Mitthei-
lungen der beiden letzten Schriftsteller, als eine von dem Lam-
bert Patras «balteur de Dinant« im Jahr Unausgeführte
Arbeit, beglaubigt, an Reinheit des Stpls, Schönheit und Dcut-

* S. Annales archeologiques. Band 5 erste Lieferung.

Donnerstag den 6. Januar 1848.

lichkeit der vereinfachten Darstellungen, Geschmack des Falten-
wurfs, Kenntniß der Natur, Trefflichkeit der Ausführung alle
Skulpturen weit übertrifft, welche mir aus dieser Epoche bekannt
sind, diesen Lambert Patras als einen plastischen Künstler ersten
Rangs erscheinen läßt und von der Höhe, worauf die Skulptur
in der Schule von Dinant in so früher Zeit erscheint, eine wahr-
haft überraschende Vorstellung erweckt. Die namhaftesten unter
den bronzenen Gcräthen, welche sich aus der Schule von Dinant
noch erhalten haben, sind ein Singpult, bezeichnet »Jehans Joses
de Dinant 1372« und ein Kandelaber, bezeichnet: »Hoc opus
fecit Johannes dos Joses de Dionanto 1372,« beide in der
Kathedrale von Tongern, welche ich indeß nicht aus eigner An-
schauung kenne.

In Tournap sind die frühesten Arbeiten in Stein, welche
mir bekannt geworden, die Skulpturen an dem südlichen Portal
des Querschiffs der Kathedrale. Sie stelle» Vorgänge ans der
Geschichte Davids, allegorische Figuren, den hängenden und vom
Teufel herabgezogenen Judas, und allerlei höchst phantastische
Unthiere dar. Das Kostüm, welches mit dem Teppich von Bapeur
übereinstimmt, weist entschieden, ans das Ende des Ilten oder
den Anfang des 12tcn Jahrhunderts. Der plastische Styl ist
gut, die Verhältnisse sehr lang, die feinen Falten parallel und
geknifft, das Handwerk aber schon völlig ausgebildet, denn die
Arbeit ist sehr scharf und die Ausführung so sehr ins Einzelne
gehend, daß auf einer großen zusammengewickelten Schlange die
Flecken der Haut angegeben sind. Leider ist von dieser Zeit an
bis gegen die Mine des 14tcn Jahrhunderts von den größeren
Denkmalen der Skulptur, welche Tournap besessen, nur noch ein
einziges, nämlich das Grabmal des Watier Mouton vom Jahr
1280 in der Johanneskirche, und auch dieses in einem sehr ver-
stümmelten Zustande vorhanden. Obgleich aber von dem im
Kettenpanzer daliegenden Ritter Gesicht und Hände im Jahr 1793
abgeschlagen worden, erkennt man noch immer eine breite und
tüchtige Auffassung der Form und eine sehr gute Arbeit. Da-
gegen sind wir so glücklich, vom Jahr 1341 bis etwa zum Jahr
1460 eine Reihe von Grabdenkmalen in mehr oder minder er-
habener Arbeit zu besitzen, von denen die meisten eine Jahrszahl
und Inschriften mit dem Namen der Personen haben, zu deren
Andenken sie ansgeführt worden sind. Weit die bedeutendsten
derselben befanden sich früher im Kloster der Franziskaner und
sind gegen das Jahr 1825 aus den Ruinen desselben durch Herrn
du Mortier, einen um die Geschichte der Kunst und Literatur
von Tournap hochverdienten Mann, dem Untergange entrissen
worden. Diese Denkmale sind nun in mehrfacher Beziehung für
die Kunstgeschichte der Niederlande von der größten Wichtigkeit.
Sie beweisen zuvörderst, daß die Bildhauerei daselbst wie in
Italien ungleich früher zu einer hohen und selbstständigen Aus-
bildung gelangt ist, als die Malerei. Sie lehren uns sodann,
daß in den Werken dieser Bildhauerei die eigentlichen Vorbilder
der Richtung zu suchen sind, in welcher die Brüder van Epck in
der ersten Hälfte des löten Jahrhunderts so Wunderbares leisten,
und erklären die bisher noch immer räthselhafte Erscheinung
dieser so höchst ausgebildeten Kunst im Verhältniß zu ihren
Register
Prof. G. F. Waagen: Ueber eine alte Bidlhauerschule zu Tournay in den Niederlanden.
 
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