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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — 11.1876

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Berggruen, Oscar: Aus dem Wiener Künstlerhause
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Verschiedenes / Inserate
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https://doi.org/10.11588/diglit.5789#0176

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339

Vom Kunstmarkt.

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fangenes Genrebild, wie man es in jeder Großstadt im
Winter wohl allmorgendlich sehen kann und sieht, ohne
daß deswegen der Soeialismus weitere Fortschritte
macht. Daher ist es uns unbegreiflich, wie man da
von einem „Tendenzbild" sprechen konme. Ja, wenn
man es mit anderen Bildern socialistischer Tendenz ver-
gleicht, z. B. mit dem berühmten Hübner'schen Bilde
„Jagdrecht", so muß man bezweiseln, daß der Künstler
überhaupt einen Protest gegen die besteheuden soeialen
Verhältnisse malen wollte, und vielmehr annehmen, daß
ihm nur der ästhetisch seststehende Reiz der Antithese
den Vorwurf seines Bildes eingab. Es ist srüher Mor-
gen an einem unfreundlichen Wintertage. Aus dem
Portal eines eleganten Restaurants schimmert noch matt
das Gaslicht heraus, während draußen schon der an-
brechende, neblige Tag ein graues Licht verdrossen über
die Straße wirst. Eben kommt eine lustige Gesellschaft
heraus, welche sich die Nacht über in einer otmmbro
86p,ur66 gütlich gethan. Ein junger Mann, der osfenbar
nichts thut, als sein Erbgut verprassen, obgleich man
es seiuer seinen, nicht unbedeutenden Physiognomie an-
sieht', daß er zu etwas Besserem geboren, ist in i'ull
äi-688, voch ohne Ueberrock, mit verschobenem Claquehut
uud mit dem Lachen uud den Bewegungen eines Be-
trunkenen auf die Straße getreten; zwei verlorene Ge-
schöpfe, jedes sür sich ein Typus der Pariser Cocotte,
hängen an seinem Arme und bemühen sich, ihn zu dem
abseits in der Nebenstraße haltenden Wagen zu bringen.
Hinter dieser Gruppe verläßt ein zu der Gesellschast ge-
höriger, vornehm aussehender Mann in noch guter Hal-
tung mit einer ebenfalls decenteren Dame der Halbwelt
den Schauplatz der nächtlichen Orgie, und hinter diesem
Paare gewahrt man eine individuell nicht unterscheid-
bare bunte Gesellschaft im Herausgehen begrifsen.
Vor dem Restaurant liegen herausgeworsene Austern-
schalen, ausgepreßte Citronen und ähnliche douux r68t68
des feinen Soupers; daraus ist ein prächtiges Veilchen-
bouquet aus der Hand einer der angeheiterten Damen
gefallen und betrübt in dieser Umgebung durch seine
dustige Schönheit nicht minder, als die jugendliche An-
muth und der Reiz der Erscheinung an diesen „Damen".
Die beschriebenen füns Figuren füllen die Mitte des
Bildes; der rechte Vordergrund ist etwas leer; den linken
nimmt eine zum Tagewerk ausziehende Arbeitergruppe
ein. Voran ein älterer Mann mit leidendetti, resignirtem
Gesichtsausdruck, der in seiner ganzen Haltung verräth,
daß er bessere Tage gesehen; er wendet den Blick ab
von der Gruppe der Lebemenschen, zu denen er vor
Iahren vielleicht auch gezählt, und schreitet, in sich ge-
kehrt, vorbei. An seinem Arme geht seine junge, hübsche
Tochter, ebenfalls mit Arbeitswerkzeugen; sie blickt neu-
gierig, fast begehrlich auf die glänzenden Toiletten der
eleganten Gestalten, an denen ihr Weg vorüberführt,

und stellt sich vielleicht heimlich 'die Frage, ob es nicht
besser wäre, ihr freudenleeres, entsagungsvolles Dasein
einzutauschen gegen solch' ein Leben, das anscheinend
eitel Lust uud Sorglosigkeit ist. Neben dem Vater schreitet
ein halberwachsener, starker Knabe, welcher die Scene
mit dem Auge kindlicher Neugier betrachtet. Hinter
diesen drei Personen kommt ein alter Arbeitsmann einher,
welcher, aus einem kurzen Thonpseifchen schmauchend,
höchst gleichmüthig über dieses ihm offenbar nicht neue
Bild zu seinem Nebenmanne, einem mit einer Spitzhaue
ausgerüsteten, krästigen, jungen Manne, dem Typus des
guten französischen Arbeiters, Glossen macht. Keinem
der Arbeiter ist anzumerken, daß er den hier so unver-
mittelt auftretenden Gegensatz zwischeu Arbeit und
Müßiggang, Vergeudung und Mittellosigkeit, Genuß
uud Entbehrung mit den Gesühlen und Gesinnungen
des destruktiven Socialismus Letrachte; er nimmt diesen
Gegensatz ruhig und unbesangen als Thatsache ebenso
hin wie der Beschauer des Bildes es thun und den
Gedanken an jegliche Tendenzmalerei von sich weisen
sollte. Dadurch läßt man sicherlich dem Künstler und
seinem Werke am meisten Gerechtigkeit widerfahren, da
auch ein politisch Bild ein garstig Bild ist. So wie
es in Wirklichkeit dem unbefangenen Beschauer sich bietet,
ist es ein im Ganzen gut komponirtes, durchweg mit
vollendeter Meisterschast ausgeführtes Motiv aus dem
modernsten Leben. Dem immerhin „pikanten" Vorwurf
sowohl als der tresflichen Schärfe der Charakteristik,
den sein abgewogenen, nirgends aufdringlich hingestellten
Kontrasten und dem beweglicken Flusse der Darstellung,
welcher dem Bilde das Gepräge vollster Actualität ver-
leiht, verdankt es das große Aufsehen, welches es in
den Kreisen des großen Publikums gemacht. Dem Kenner
wird außerdem die absolut richtige Zeichnung der in
mannigfacher, schön gedachter Bewegung beflissenen, lebens-
großen Figuren, sowie überhaupt der seine Formensinn
des Künstlers angenehm aufgefallen sein. Darin be-
währte er die treffliche Schule, welcher er entstammt, in
höherem Grade als in der Farbengebung, da diese unleug-
bar härter, kälter und kreidiger ist, als die glücklich sest-
gehaltene Stimmung des grauen Wintermorgens es
erheischt, ganz abgesehen davon, daß im Hinblick auf
die großen Dimensionen des Bildes ein krästigeres, sat-
teres Kolorit am Platze gewesen wäre. Alles in Allem
genommen, kann mapl jedoch getrost behaupten, daß das
Bild des belgischen Meisters zu jenen Schöpfungen
gehört, in denen die kunstgeschichtliche Berechtigung des
modernen Realismus sich offenbart.

Oskar Berggruen.

Vom Knnstmarkt.

Vr. Börner's Kunstauktion in Leipzig. Der Katalog
für die auf den 13. März angesetzte Kupferstichauktion verdient
nm seines vorzüglichen und reichen Jnhaltes rvillen die volle
 
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