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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 5.1894

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Warnecke, Georg: Die allegorischen Gestalten an den Mediceergräbern von S. Lorenzo
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https://doi.org/10.11588/diglit.5781#0127

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Die allegorischen Gestalten an den Medieeergräbern von S. Lorenzo.

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hat, dass sie nicht mehr auf Erden leuchten. Was
würde er erst aus uns gemacht haben, wenn er
noch lebte."

Die Deutung ist künstlich geschraubt und dun-
kel. Das wird selbst der begeistertste Verehrer des
Meisters nicht leugnen können. Wie kommt Michel-
angelo zu diesem ausgeklügelten Programm ? Springer
hat auch hier den rechten Weg gewiesen. Als ein
förmliches Programm können die Worte nicht gel-
ten; sie sind sehr früh, zur Zeit der ersten Ent-
würfe der Denkmäler aufgeschrieben, während Michel-
angelo innerlich daran arbeitete, die allegorischen
Figuren ihrem Charakter und ihrem Ausdruck nach
in ein sinnreiches Verhältnis zu den Statuen der
Herzöge zu setzen. Davon zeugen die Allegorieen
des Himmels und der Erde, die hier noch eine Rolle
spielen, während sie doch gleich zu Anfang der
wirklichen Ausführung der Denkmäler beiseite ge-
schoben wurden. Jene eigene Erklärung des Meisters
sagt uns sehr wenig, eigentlich nur das, dass wir
hier Symbole der Trauer, des Schmerzes vor uns
haben. Das ist als Ausgangspunkt für die Deutung
gewiss von der größten Wichtigkeit. Aber weshalb
die Personifikationen des Tages und der Nacht, des
Morgens und des Abends für diesen Zweck aufge-
boten sind, darüber erfahren wir nichts. Weshalb
trauern denn gerade die Tageszeiten? Hier sitzt der
Kern der ganzen Erklärungsfrage. „Zeit und Raum,
Glieder des Universums, hüllen sich in Trauer", hat
man gesagt, ohne damit dem Verlangen nach einer
innerlichen Erklärung entgegenzukommen. Springer
meint geradezu, Michelangelo zeige schon früh, wie
eben auch hier, die Neigung, spröden allegorischen
Gestalten Leben einzuhauchen und durch die Kraft
der Formen und den leidenschaftlichen Ausdruck
den ursprünglich dürftigen Inhalt vergessen zu
machen. Ja, zwischen der schriftlichen Ausdrucks-
weise Michelangelo's und seiner Ausdrucks weise in
Marmor gähnt eine tiefe Kluft, über die eine Ver-
bindung zunächst unmöglich erscheint. Die Marmor-
bilder haben mit den gangbaren Personifikationen fast
nichts mehr gemein; sie erinnern an dieselben nur
durch die Wahl der Geschlechter, des weiblichen
für „notte" und „aurora", des männlichen für „giorno"
und „crepuscolo", welche Teilung dem Künstler auch
in Bezug auf die Ausgestaltung plastischer Kontraste
willkommen sein musste. Von volkstümlichen
Attributen finden wir nur die Nacht von Maske,
Eule und Mohn begleitet. Die übrigen deuten
bloß durch Bewegung und Ausdruck für den vor-
liegenden Sinn, das Motiv der Klage und Trauer;

es sind keine Allegorieen mehr, es sind persönliche
Wesen geworden. Wenn es nicht sonst schon durch
zeitgenössische Berichte nahe gelegt wäre, könnte
man aus diesem Verhältnis der „notte" zu den übrigen
drei Statuen schließen, dass der Meister jene, bei
welcher der Zusammenhang mit den typischen Alle-
gorieen noch am klarsten nachweisbar ist, im Ent-
würfe zuerst vollendet hat, während er sich bei den
drei folgenden von der Darstellungsweise seiner Zeit
völlig losgelöst hat und seinen eigenen Weg ge-
gangen ist. Können wir diesen Weg noch wieder-
finden?

Mit jenen Worten auf dem Blatte in der Casa
Buonarroti steckt Michelangelo noch in der schema-
tischen Allegorie, der auch er als ein Kind seiner
Zeit unterthan gewesen ist. Die Allegorieen empfing
er dem Namen und der Vorstellungsweise nach aus
der allgemeinen Überlieferung, aus der Welt Dante's,
von dem das ganze Renaissancezeitalter in Bezug
auf diese Personifikationen poetischer Begriffe be-
fruchtet erscheint. Der Umgang mit solchen schatten-
haften Gestalten, in deren Gesellschaft es uns im
allgemeinen höchst unbehaglich wird, war für die
Künstler und Dichter jener Periode zur Manier, zur
Mode geworden. Aber dürfen wir die Allegorieen
deshalb als von vornherein frostig und leer an In-
halt bezeichnen? Wir müssen nur den Weg finden
von der uns abstoßenden Vorstellungs- und Aus-
drucksweise zu dem warmen persönlichen Empfinden,
das in diesen Abstraktionen seine für die Zeit charak-
teristische Form gefunden hat. Freilich, was bei
Dante und anderen großen Geistern tiefen poetischen
Sinn und Bedeutung hat, wird zum leeren Namen,
zum bloßen Spiel im Munde der Kleinen. Aber am
allerwenigsten werden wir uns das Schaffen Michel-
angelo's als ein äußerliches Nachbeten vorzustellen
haben. Er empfängt die Allegorieen mit der Gesamt-
bildung seiner Zeit; aber er, selbst ein Dichter, fühlt sie
dem Dichter nach, er beseelt sie mit eigenem Hauche.
Mag er, wenn er spricht, im Namen, im Begriff
stecken bleiben; sie sind längst Empfindung, wenn er
entwirft, und wenn er meißelt, rauscht der vollste
Strom der lebendigen Seele. Angesichts seiner
Statuen müssen wir heruntersteigen vom Abstrakten
zum Wirklichen.

Der Tag und die Nacht trauern, der Morgen
und der Abend trauern! Was kann das anderes be-
deuten, als dass die, welche als Hinterbliebene den
beiden Verstorbenen nachweinen und ihrem An-
denken diese Steine gesetzt haben, als dass diese
sprechen: Wir trauern in der Nacht, wir trauern
 
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