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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 6.1895

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Schmid, M.: Das Hundertguldenblatt
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.5782#0087

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KUNSTCHRONIK

WOCHENSCHRIFT FÜR KUNST UND KUNSTGEWERBE.
Ankündigungsblatt des Verbandes der deutschen Kunstgewerbevereine,

HERAUSGEBER:

CARL VON LUTZOW

WIEN
Heugasse 58.

und DR. A. ROSENBERG

BERLIN SW.
Teltowerstrasse 17.

Verlag von E. A. SEEMANN in LEIPZIG, Gartenstr. 15. Berlin: W. H. KÜHL, Jägerstr. 73.

Neue Folge. VI. Jahrgang.

1894/95.

Nr. 11. 3. Januar.

Die Kunstchronik erscheint als Beiblatt zur „Zeitschrift für bildende Kunst" und zum „Kunstgewerbeblatt" monatlich dreimal, in den
Sommermonaten Juli bis September monatlich einmal. Der Jahrgang kostet 8 Mark und umfasst 33 Nummern. Die Abonnenten der „Zeit-
schrift für bildende Kunst" erhalten die Kunstchronik gratis. — Für Zeichnungen, Manuskripte etc., die unverlangt eingesandt werden,
leisten Redaktion und Verlagshandlung keine Gewähr. Inserate, ä 30 Pf. für die dreispaltige Petitzeile, nehmen außer der Verlagshandlung
die Annoncenexpeditionen von Haasenstein & Vogler, Rud. Mosse u. s. w. an.

DAS HUNDERTGULDENBLATT.

Renibrandt's meisterhafte Radirung, Bartsch 74,
wird meist unter dem Namen „Das Hundertgulden-
blatt" zitirt. Vielleicht hat die frühe Entstehung
dieses Namens es versursacht, dass man keinen ganz
präzisen, aus dem Inhalte der Darstellung geschöpf-
ten Titel einführte. Allerdings findet sich meist
nebenher die Bezeichnung „Jesus, die Kranken hei-
lend". Aber dieser Nebentitel giebt keine erschöp-
fende Inhaltsangabe, schon nicht in Hinsicht auf
die so bedeutungsvoll hervortretenden Pharisäer.
Ja, es scheint, dass sogar die zahlreichen, bisher
gegebenen Beschreibungen einige wichtige, für die
Inhaltsangabe maßgebende Punkte unerörtert lassen.

Es ist das wohl verwunderlich im Hinblick dar-
auf, dass kaum ein Blatt vom Oeuvre Rembrandt's
so bekannt, so oft bewundert und beschrieben ist,
wie eben das Hundertguldenblatt. Es ist aber er-
klärlich, da die eigentliche Fachlitteratur über Rem-
brandt's Radirungen den Schwerpunkt natürlich
weniger auf die genaue Bilderbeschreibung, als
auf die Etatbestimmungen legt.

Als das Hauptmotiv des Hundertguldenblattes
haben in den bisherigen Beschreibungen die rechts
im Vordergrunde herandrängenden Kranken und
Elenden, die Christus um Heilung anflehen, gegolten.
Die zur Linken als müßige, spottende Zuschauer sich
anreihenden Pharisäer galten als ein um der Kontrast-
wirkung willen beigefügtes zweites Motiv. Mit der
ausführlichen Besprechung dieser Gegensätze war
die Erklärung im allgemeinen erschöpft.

Nun ist mir aulfallend gewesen, dass Christas

sich grade von den angeblichen Hauptpersonen, den
Krüppeln und Bettlern, abwendet und seine Blicke
auf die vor ihm stehende Frau mit dem Kinde und
eine zweite, mit Kindern heraneilende Frau richtet.
Ist es ein krankes Kind, das dem Herrn zur Heilung
dargeboten ist? Doch kaum. Wenigstens ist das
in keiner Weise angedeutet.

Noch auffallender war mir die Bewegung jenes
alten Mannes, der zwischen Christus und die Frau
tritt und seine Hand gegen die Frau erhebt. Was
thut er da? W. v. Seidlitz, der neueste, zartfühlige
Rembrandtinterpret, der manche feine Beziehung in
anderen Radirungen nachgewiesen hat, erwähnt seltsa-
merweise diese Frau, zu der Christus unmittelbar sich
wendet, überhaupt nicht, ebensowenig wie vor ihm
Bartsch, Dutuit, Claussin, Michel, Rovinski u. a.,
während Middleton (p. 212) sie beschreibt, ohne
weitere Erklärung. Ch. Blanc und Vosmaer (p. 291)
schreiben: „une femme lui presente son enfant, sur
lequel un vieillard pose la inain." Wer ist der Greis,
der seine Hand auflegt, sich zwischen Christus und
die Frau drängt?

Zunächst scheint der Greis gar nicht die Hand
aufzulegen. Vielmehr scheint er die Frau von
Christus fortzuschieben. Und was thut Christus?
Er drängt mit einer leichten Bewegung der Rechten
den Allzueifrigen zurück, erhebt die Linke wie zu
einer Anrede und die Blicke auf das Weib freundlich
ernst richtend, scheint er ermunternde Worte zu
sprechen, die nun sogleich das zweite Weib veran-
lassen, heranzueilen, und zwar direkt auf Christus
hin, zu dem ihr Knabe, mit der Hand auf den Herrn
weisend, sie heranzieht.
 
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