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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 8.1897

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Zur Würdigung von Bötticher's "Tektonik der Hellenen"
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Zur Würdigung von Bötticher's „Tektonik der Hellenen".

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erschien 1843—1852, die zweite, umgearbeitete Auflage
folgte 1874—1881. Bötticher's Reisen nach Griechen-
land fallen in die Jahre 1862 und 1877. Der Autor
bemerkt in der Einleitung zur zweiten Auflage selbst,
dass die Redaktion, die er mit dem Werke damals vor-
nahm, sich nur auf die Form des Ausdrucks und die
Anordnung des Stoffes bezog, während die leitenden Ge-
danken dieselben blieben. Völlig unverändert ließ der
Autor die Tafeln. Sie sind sämtlich nach Bötticher's
eigenen Zeichnungen vortrefflich gestochen und „stellen"
— wie Streiter mit Recht sagt — „eine für die Zeit
ihres Erscheinens ganz hervorragende architektonische
Veröffentlichung dar". Aber man darf dabei nicht außer
Acht lassen, dass die Zeichnungen Bötticher's, die den
Stichen zu Grunde liegen, keine Originalaufnahmen waren;
sie sind „durchweg aus älteren Werken zusammen-
getragen, und manches ist von Bötticher nach den An-
nahmen seiner Theorie nicht unwesentlich zurecht-
gerückt11.

Ein besonders lehrreicher Abschnitt des Streiter-
schen Buches behandelt „die ästhetischen Betrachtungs-
weisen der Architektur vor Bötticher". Der Autor fasst
in demselben, mit gutem Grund, nur diejenigen philo-
sophischen Systeme und ästhetischen Theorieen schärfer
in's Auge, die zur Zeit von Bötticher's Auftreten die
herrschenden waren und möglicherweise dessen Anschau-
ungen beeinflusst haben.

Bei Solger, der hier zunächst in Betracht kommt,
findet sich bereits der Gedanke „von der größeren Ge-
bundenheit des Einzelnen im Ganzen beim Dorischen,
von der selbständigeren Ausbildung der Teile im ionischen
Stil", der bekanntlich von Bötticher weiter ausgeführt
und begründet worden ist. Aber wir stoßen auf ähn-
liche Betrachtungen auch bei anderen gleichzeitigen
Autoren, so dass es nicht bestimmt erkennbar ist, ob
gerade Solger in dieser Hinsicht auf Bötticher eingewirkt
hat. Noch unbestimmter und fraglicher ist des Letzteren
Verhältnis zu Hegel und Schelling. Mit Hegel hat
Bötticher allerdings manches in der „allgemeinen Grund-
stimmung", im „Zeitkolorit", in der philosophischen
Ausdrucksweise gemein. Aber die leitenden Gedanken
der „Tektonik" stehen zu der Hegel'schen Ästhetik in
entschiedenem Gegensatz. Auch Schelling hat auf Böt-
ticher's Ideen keinen Einfluss gewonnen, sondern sich
vielmehr durch den letzteren belehren lassen, als sie
nach Schelling's 1841 erfolgter Übersiedelung nach
Berlin miteinander in persönlichen Verkehr traten. Im
übrigen fehlte beiden Philosophen, bei aller Weite ihres
Blicks und bei aller Förderung, welche die Ästhetik
ihnen zu verdanken hat, jedes tiefere Verständnis für
das Wesen und die Entwicklung der Baukunst, so dass
sie in ihrer philosophischen Erkenntnis auf diesem Ge-
biete nur zu vagen, allgemeinen Vorstellungen gelangen
konnten. Dasselbe gilt auch von dem Denker des „mo-
dernen Ideals", von Chr. Herrn. Weiße, obwohl anzu-

erkennen ist, dass er der Architektur in dem System
der Künste bereits die volle Würde einer selbständigen
und freien Stellung zu wahren gewusst hat, die man
ihr bis dahin meistens abgestritten hatte. Auch wenn
die architektonische Schönheit — lehrte Weiße — dem
Endlichen, dem realen Zweckbegriffe dient, bleibt sie
doch Schönheit im vollen Sinne des Wortes, erhebt sie
doch die Zweckmäßigkeit in das ideale Gebiet des wahr-
haft Schönen.

Der erste, der von dieser allgemeinen, theoretisch
richtigen Einsicht nun zu einer methodisch gewonnenen
und auf ein konkretes bautechnisches und kunstgeschicht-
liches Wissen gestützten Beherrschung des Gegenstandes
vorschritt, war der Kasseler Professor der Baukunst
J. H. Wolff. Er darf als der einzige wirkliche Vor-
läufer Bötticher's bezeichnet werden. In seinem 1834
erschienenen Werke: „Beiträge zur Ästhetik der Bau-
kunst, oder die Grundgesetze der plastischen Form,
nachgewiesen an den Hauptteilen der griechischen Archi-
tektur" liegt uns der erste Versuch vor, die Schöpfungen
der hellenischen Architektur in ihrer klassischen Oesetz-
mäßigkeit nachzuweisen, „die Notwendigkeit in der
Formengebung des Ganzen, wie bei allen einzelnen
Ornamenten darzuthun", und auf diese Weise das wahre
Wesen der Architektur überhaupt und ihre Aufgabe für
alle Zukunft festzustellen. Die Erkenntnis der „Gesetz-
mäßigkeit der schönen Form" führte den Autor zu
folgenden allgemeinen Normen der „Architektonik":
1. Gesetz der Schwere (Gleichgewicht); 2. Einfachheit
der Mißverhältnisse (mit dem Quadrat als Grundver-
hältnis); 3. Gesetz der Symmetrie; 4. Notwendigkeit
von Vorbereitungen und Vermittlungen (bei Bötticher
„Junkturen") und 5. Notwendigkeit herabhängender
Formen im Gegensatz zu aufstrebenden (analog den Ge-
bilden der anorganischen Natur).

Es ist höchst wahrscheinlich, dass Bötticher die
Schrift Wolff's gekannt und einzelne Gedanken derselben
entlehnt hat. Nichtsdestoweniger dürfen wir mit Streiter
das Verhältnis der beiden Autoren so definiren, dass
Wolff die Aufgabe, die sich Bötticher in seiner „Tektonik"
stellte, wohl bereits klar und deutlich formulirt, sie auch
in wesentlichen Grundzügen skizzenhaft ausgeführt hat,
dass es aber erst Bötticher gewesen ist, welcher die
Aufgabe auf Grundlage eines umfänglichen kunstwissen-
schaftlichen und litterarischen Apparates in Form einer
strengen, sorgfältig aufgebauten Systematik in seiner
WTeise wirklich gelöst hat. Wolff selbst hat dies frei-
mütig anerkannt. Er blickte, nachdem Bötticher's Werk
erschienen war, mit Begeisterung zu demselben empor
und trat dafür, im Kampfe mit den Romantikern, energisch
in die Schranken.

Damit stehen wir nun vor den Hauptabschnitten
der Streiter'schen Schrift, vor der Darlegung und Kritik
der Grundgedanken von Bötticher's „Tektonik", als der
ersten, bis ins Kleinste durchgeführten Analyse eines
 
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