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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 11.1900

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Schmarsow, August: Über die Grenze der Renaissance gegen die Gotik
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https://doi.org/10.11588/diglit.5771#0218

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aber nicht zum dritten Mal wiederholen müssen, was
ich in meinem Vortrag ebenso, wie in der grund-
legenden Einleitung zu »Barock und Rokoko« (1897)
schon erörtert. Hier muss ein Satz genügen: »Die
Renaissance ist für den Historiker nur Eine ganz be-
stimmte Periode, die das Mittelalter ablöst und (es
wird sich später zeigen, wie weit) bis an die Neuzeit
reicht. Sie setzt in erster Linie das Mittelalter voraus,
aus dem sie herauswächst, so sehr sie sich dazu im
Gegensatz fühlen mag. Wir brauchen zu ihrer Er-
klärung diesen Faktor ebenso notwendig, wie das
wieder entdeckte Altertum, zu dem man zurückkehren
möchte. Ja, wir brauchen dies Erbe der leiblichen
Väter vielleicht notwendiger, als das Ideal, dem die
neue Generation nachstrebt, die Antike, die man
wieder erobern möchte.«

Sowie die historische Stelle der Renaissance richtig
zwischen Mittelalter und Neuzeit genommen ist, wird
auch die Anerkennung beider Faktoren, der mittel-
alterlichen Tradition und der neuen lebenden Gene-
ration selbst, erfordert. Es ergiebt sich folgerichtig
die Reihe der Phasen Früh-Hoch-Spätrenaissance, die
wir zu unterscheiden pflegen, ja der notwendige Zu-
sammenhang mit den weiteren Barock, Rokoko, Zopf,
deren letzte ich als Ausgang der grossen Gesamt-
bewegung fasse und demgemäss als »archäologische
Renaissance« charakterisiert habe, ohne diesen Namen
an die Stelle setzen zu wollen.

Diese Auseinanderlegung des historischen Prozesses
verlangt aber eine genaue Definition des Neuen, das
sich vollzieht und im Kampf oder im Bündnis mit
den vorhandenen Mächten durchsetzt oder wieder er-
lahmt. »Dies Neue kann kulturgeschichtlich nur als
die Wiedergeburt des ganzen Menschen in alle seine
natürlichen Rechte gefasst werden, und der Höhepunkt
als harmonische Entwicklung aller Anlagen, zu glück-
lichstem Zusammenwirken seiner physischen und
psychischen Kräfte, wie es in der kurzen Blüte der
Hochrenaissance erreicht wird.« Das ist meine Auf-
fassung dieser grossen Kultur- und Kunstperiode. Die
unwiderstehliche Sehnsucht des Menschen nach Selbst-
befreiung aus dem Bann asketischer Lehre, zurück in
die Rechte der angestammten Natur, die jene vor-
enthalten oder verkümmert hatte, also das Erwachen
zum echt menschlichen Wesen ist überall der Anfang
diesseits wie jenseits der Alpen.

Besteht somit über Zweck und Ziel der Bewegung
kein Zweifel, so kann in Italien nur über die Rolle,
die dabei das Vorbild der Antike gespielt habe, noch
gestritten werden. Das heisst, sie erscheint von vorn-
herein nur als ein Mittel zum Zweck, ein Weg zur
Erreichung des Zieles, also in sekundärer Bedeutung,
nicht als Hauptsache. Die Wiederaufnahme antiker
Kultur, Lebensweisheit und Kunst bot sich gleichsam
natürlich als eine, in der eigenen Vergangenheit der
Italiener gegebene Möglichkeit an. Aber die Nach-
ahmung der Antike allein wäre ein unzureichendes
Prinzip zur Erklärung der italienischen Renaissance.
Sie wäre darnach ja nichts als der Prozess ewigen
Wiederkäuens, den man etwa in einer Protorenaissance
oder romanischen Renaissance, womöglich noch früher

| schon eingeleitet denkt. Es fehlte das Eigne, der
lebendige Faktor, den wir im historischen Fortschritt
nicht entbehren können. Neben diesem dem »halb-
antiken« Italiener nahe liegenden Weg gab es jedoch
einen andern, der thatsächlich ebenso eingeschlagen
ward: die unmittelbare Rückkehr zur Natur selbst,
die wir in der Kunst »Realismus«, oder wenn er sich
auf Wiedergabe eines bestimmten Einzelwesens zu-
spitzt, auch »Individualismus« nennen. Man denke
nur an Donatello und Masaccio, oder vollends an
Verrocchio und Pollajuolo. Die Thatsache wird auch
seit Burckhardt nicht mehr bestritten. Aber es ist ein
Irrtum, den ich bekämpfe und bei Dehio nur wieder-
holt finde, dass Realismus und Individualismus ein
unvereinbarer Widerspruch zur Antike seien. Sie
gehen im Gegenteil auf langen Bahnen künstlerischen
Strebens einmütig mit ihr Hand in Hand.1) Ist aber
dies der Fall, so ist die Definition der Renaissance
als Nachahmung der Antike, die Dehio immer ver-
treten hat, erst recht eine Unzulänglichkeit, und es
muss ein höheres Prinzip gesucht werden, unter dem
sich die beiden Wege vereinigen.

So darf der Historiker wohl fragen: was bot die
Antike dem Italiener im Unterschied von der ererbten
mittelalterlichen Kunst, der Gotik? Was lernte der
Südländer aus dem Vermächtnis antiker Weltanschauung,
aus dem Anblick antiker Kunstwerke, auch wo Nach-
bildung des einzelnen Beispiels nicht vorliegt? Der
grosse Unterschied zwischen antiker und mittelalter-
licher Kunst besteht meines Erachtens wesentlich
darin, dass die Antike unmittelbar und vollauf für

J die sinnliche Anschauung arbeitet und demgemäss
die Werte des Daseins um ihrer selbst willen vor
Augen stellt, während das Absehen der mittelalter-
lichen Kunst stets auf Vermittlung geistigen Inhalts,
also auf die Befriedigung des innern Menschen ge-
richtet ist und sich demgemäss an die Vorstellung
wendet. Damit erst erhalten wir auch den Schlüssel
zum Ganzen, das ich anzubieten wage, und den letzten
Unterschied zwischen den voraufliegenden Perioden,
Altertum und Mittelalter, mit denen sich die Folge-
zeit auseinandergesetzt hat.

Damit erst erschliessen wir auch den vollen Wert,
den das wiederentdeckte Altertum für den Italiener
des Quattrocento gewinnen mochte. Für die sinn-
liche Anschauung darzustellen, das körperliche Dasein
als unveräusserlichen Wert in sein natürliches Recht
wieder einzusetzen, lernt der Künstler von der Antike.
Aber er muss zuvor seine Augen öffnen für diese
Offenbarung und das ist nur möglich durch den
dunklen Drang, der sich in der neuen Generation

, allmächtig regt. Erst dann lehrt dies Vorbild ihn,

j die Welt mit den grossen unbefangenen Augen des
antiken Menschen sehen, und wiedergeben, entweder
am Gängelbande der Nachahmung oder in der Frei-

J heit eigner Naturbeobachtung bis zur Wirklichkeitstreue.
Heisst das von »Unerheblichkeit der Antike« reden?

Freilich gilt sie für diese Erkenntnis nur als ein
Mittel zum Zweck, als ein Weg zum Ziel, aber in

1) Vgl. m. Donatello 1886, S. 3,2 u. passim.
 
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