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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 14.1903

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Haendcke, Berthold: Bemerkungen zu Michelangelo's Jüngstem Gericht
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https://doi.org/10.11588/diglit.5810#0040

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KUNSTCHRONIK

WOCHENSCHRIFT FÜR KUNST UND KUNSTGEWERBE

Verlag von E. A. SEEMANN in Leipzig, Qtierstr. 13

Neue Folge. XIV. Jahrgang 1902/1903 Nr. 4. 30. Oktober

Die Kunstchronik erscheint als Beiblatt zur Zeitschrift für bildende Kunst, und zum »Kunstgewerbeblatt« monatlich dreimal, in den Sommer-
monaten Juli bis September monatlich einmal. Der Jahrgang kostet 8 Mark und umfasst 33 Nummern. Die Abonnenten der »Zeitschrift für bildende
Kunst« erhalten die Kunstchronik kostenfrei. — Für Zeichnungen, Manuskripte etc., die unverlangt eingesandt werden, leisten Redaktion und Ver-
lagshandlung keine Gewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E. A. Seemann, Leipzig, Querstrasse 13. Anzeigen 30 Pf. für
die dreispaltige Petitzeile, nehmen ausser der Verlagshandlung die Annoncenexpeditionen von Ha äsen st ei n & Vogler, Rud. Mosse u. s. w. an.

BEMERKUNGEN ZU MICHELANGELO'S
JÜNGSTEM GERICHT

Es ist bereits so oft und von so berufenen Federn
über das jüngste Gericht Michelangelo's geschrieben
worden, dass es gewagt erscheinen muss, noch eine
Bemerkung zu machen. Wenn ich es dennoch thue,
so geschieht es, weil mir zwei wichtige Gesichts-
punkte, die einerseits die Erfassung des Stoffes,
andererseits die Komposition betreffen, nicht stark
genug herausgearbeitet erscheinen.

Wenn an das jüngste Gericht Michelangelo's er-
innert wird, so vermeinen sehr viele, sonst wohl
Unterrichtete zugleich die grösste künstlerische Offen-
barung der italienischen Hochrenaissance vor sich
zu sehen, die frei von den Fesseln des Mittelalters
in der ungehemmten Aussprache der Individualität,
des künstlerischen Denkens und Fühlens schwelgt.
Und sobald uns Aretino's Brief an Michelangelo in
das Gedächtnis zurückkommt, in dem der Venetianer
schreibt, er schäme sich als Christ der Freiheiten, die
sich der Meister bei der Schilderung eines Gegen-
standes, der den Mittelpunkt unseres Glaubens aus-
mache, genommen habe; in dem er dem Maler vor-
wirft, er habe die vornehmste Kapelle der Christen-
heit ausgemalt, als ob er ein wollüstiges Bad mit
Bildern zu zieren habe — wenn wir ähnlicher Äusse-
rungen anderer Zeitgenossen (Biagio), der Übermalung
einzelner Teile des Freskos gedenken, so darf man
in der That sich die Frage vorlegen: ob der grosse
Florentiner nicht wirklich etwas geboten habe, das
jenseits jeder Tradition liege. Springer hat sich be-
reits hiergegen ganz bestimmt geäussert, indem er
sagte, Michelangelo's Werk stehe »auf dem Boden
der älteren künstlerischen Überlieferung« und »es
weiche nicht in der Grundstimmung von den älteren
Darstellungen ab, desto mehr unterscheide es sich
von denselben in anderen Punkten«. Er hob, wie
bekannt, die symmetrische Anordnung der Apostel,
der Heiligen im Gegensatze zu der Mannigfaltigkeit
der Bewegungen und Stimmungen in Michelangelo's
Malerei; die gleichzeitige Schilderung des Gerichtes,
der Höllenqualen, der Seligkeit der Begnadigten als,
wenn auch dem Gedanken nach nicht völlig neu, so
doch als ungewöhnlicher hervor.

Michelangelo ist in seinem jüngsten Gerichte that-
sächlich dieser Zeiten letzter Maler des supranatura-
listischen, leidenschaftlich frömmigen Mittelalters; trotz-
dem er der Meister der Hochrenaissance, »der Vater
des Baroccos« ist. Er ist in höherem Grade der Maler
dieses naiven und zu gleicher Stunde sich selbst die
Wahrheit beweisenden glutvollen Glaubens, als der
Raffael der römischen Zeit; denn bei Michelangelo
ordnen sich in den späteren Jahren die reinen Form-
probleme — so befremdend es auf den ersten Blick
erscheint — mehr dem lebendigen Gehalte des Stoffes
unter, gehen Inhalt und Ausdruck restloser ineinander
auf. Beide Quellen künstlerischen Schaffens entspringen
eben in einer grösseren Tiefe, sind frei von fremden
Beigaben. »Negli anni molti e nelle molte pruove
cercando, il saggio al buon concetto arriva D'un im-
magine viva — Vicino a morte, in pietra alpestra e
dura.« —

Als Michelangelo die Aufgabe gestellt bekam, ein
jüngstes Gericht zu malen, stand er, um dies des
Zusammenhanges halber noch einmal klar zu legen,
als empfindender Mensch wie als gestaltender kom-
ponierender Maler in für ihn massgebender Weise
auf dem Boden des Mittelalters. Aus all den Äusse-
rungen, die in seinen Briefen wie in seinen Gedichten
enthalten sind, spricht eine tiefe Gläubigkeit, die von
allem »Humanismus« frei war. Der Gedanke des
jüngsten Gerichtes war für ihn einer Thatsache gleich.
Das Schreiben an Vittoria Colonna, in dem er von
der doppelten Ankunft Christi spricht, der nach der
heiligen Schrift das erste Mal in süsser Milde, voller
Barmherzigkeit und Güte, das zweite Mal gewappnet
und als strenger Richter komme, belegt dies zur
Genüge. In diesem Sinne aber erlebte auch der
Denker und Künstler Michelangelo das »jüngste Ge-
richt«! Er sah die Altarwand, an die er sein Bild
malen sollte, verschwinden. Er blickte in einen un-
ermesslichen Raum. Aus himmlischen Höhen senkten
sich Wolkenschleier bis zur Erde hernieder. Auf
ihnen kam aus dem Weltenraume heraus, auf Wolken
thronend, dahergefahren der, der richten will über
die Gerechten und die Ungerechten. Umgeben von
der Madonna, dem Vorläufer, den Blutzeugen, Adam
und Eva, all den vielen, die zu den Seligen sich ge-
sellen durften, eilt er in Himmelshöhen über die
Erde dahin. Unter und hinter ihm rufen die Engel
 
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