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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 16.1905

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Baer, Leo: Die Eva des Veit Stoss
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https://doi.org/10.11588/diglit.5901#0137

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KUNSTCHRONIK

WOCHENSCHRIFT FÜR KUNST UND KUNSTGEWERBE

Verlag von E. A. SEEMANN in Leipzig, Querstraße 13

Neue Folge. XVI. Jahrgang 1904/1905 Nr. 17. 3. März

Die Kunstchronik erscheint als Beiblatt zur »Zeitschrift für bildende Kunst« und zum »Kunstgewerbeblatt« monatlich dreimal, in den Sommer-
monaten Juli bis September monatlich einmal. Der Jahrgang kostet 8 Mark und umfaßt 33 Nummern. Die Abonnenten der »Zeitschrift für bildende
Kunst« erhalten die Kunstchronik kostenfrei. — Für Zeichnungen, Manuskripte usw., die unverlangt eingesandt werden, leisten Redaktion und
Verlagshandlung keine Gewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an e. A. Seemann, Leipzig, Querstraße 13. Anzeigen 30 Pf. für
die dreispaltige Petitzeile, nehmen außer der Verlagshandlung die Annoncenexpeditionen von Haasenstein 8t Vogler, Rud. Mosse usw. an.

DIE »EVA« DES VEIT STOSS
von Leo Baer

Vor zwei Jahren erwarb die Skulpturensammlung
des Louvre eine hochbedeutende Arbeit aus der Blüte-
zeit deutscher Kunst. Es ist die lebensgroße (1,68
Meter) polychrome Holzstatue einer »Eva«, einer
üppigen, ganz unbekleideten Frauengestalt mit lang
herabwallenden Haaren1). Diese, verzweifelt die Hände
ringende, »Eva« ist in der Eigenartigkeit des Motives
und durch die Innerlichkeit des Ausdruckes ein Werk
von ganz seltener Anziehungskraft. Die lebens-
sprühende Natürlichkeit, die bewundernswürdige Mo-
dellierung des nackten Körpers verbindet sich mit
einer hervorragenden Schönheitsgestaltung und einer,
für einen deutschen Künstler, außergewöhnlichen Mo-
numentalität. Leider ist die Erhaltung der Statue
nicht vollkommen. Die Basis, ein großer Teil des
linken Fußes und der ganze rechte Fuß fehlen. Diese
Mängel sind j'edoch j'etzt von sachkundiger Hand er-
gänzt, so daß der Oesamteindruck der Figur einiger-
maßen wiederhergestellt ist.

Herr Andre Michel, der die Statue in der »Gazette
des Beaux-Arts«, 1903 t. I, p. 3712), publizierte, hat
ihr mit feinem Kunstverständnisse gleich den richtigen
Platz in der Geschichte der Kunst angewiesen. Nach
ihm gehört sie der fränkischen Schule an; und zwar
erinnert ihr Typus, wie er sagt, weniger an Riemen-
schneider wie an die Frauengestalten Dürers. Wie
jene umspielt schon unsere »Eva« ein Hauch ita-
lienischer Renaissancekunst, von der das Werk, was
Größe der Formenauffassung betrifft, beeinflußt zu
sein scheint. Dieser Hinweis auf die Nürnberger
Schule vom Anfange des 16. Jahrhunderts berechtigt
uns nach dem Künstler selbst Umschau zu halten.
Und da ist, wie ich glaube, nur einer, dem wir nach
dem ganzen Charakter seiner Kunstauffassung für den
Verfertiger der »Eva« halten können, den größten
Bildschnitzer der deutschen Renaissancezeit, Veit Stoß.

Nackte Frauengestalten, die wir mit der »Eva« in
Vergleich stellen könnten, besitzen wir, soweit es mir
bekannt ist, nur aus der Jugendzeit dieses Künstlers:
Eine »Eva« in der Darstellung des »Christus in der

1) Nähere Angaben über diese Statue verdanke ich der
Liebenswürdigkeit des Herrn Andre Michel in Paris.

2) Ebendort zwei vorzügliche Abbildungen.

Vorhölle« auf dem Flügel des Marienaltars in Krakau
(1477—1489) und die »Eva« in der »Erschaffung
der Eva«, dem »Sündenfall« und der »Vertreibung
aus dem Paradiese« auf dem »Rosenkranze« des Ger-
manischen Museums (ca. 14991), ferner mehrere un-
bekleidete Frauen im »Jüngsten Gericht« desselben
Bildwerkes. Diese Figuren zeigen noch die Tendenz
zum Langgestreckten, die Veit Stoß in seiner Jugend-
periode liebte, sie verraten auch noch ein gut Stück
mittelalterlicher Befangenheit, die sich durchaus von
der kühnen Gestaltungskraft seiner Spätwerke unter-
scheidet. Es ist deshalb schwer, diese Figuren mit
der »Eva« des Louvre zu vergleichen, in der wir,
wie ich glaube, ein Spätwerk des Veit Stoß erhalten
haben. Immerhin weisen diese, in sehr kleinem Maß-
stabe gehaltenen, Bildwerke in der Behandlung des
Aktes, besonders in der starken Hervorhebung der
Gelenke, manche Analogien auf. Noch größere Ähn-
lichkeit zeigt die Bildung des Gesichtstypus'. Die
Spaltung des herabwallenden Haares, das, hinter die
Ohren zurückgestrichen, zu beiden Seiten der Schultern
herunterfällt, ist ein Motiv, das sich durch das ganze
Werk des Veit Stoß verfolgen läßt und sich bei fast
allen seinen Frauendarstellungen findet. Dagegen
wird bei diesen nackten Frauen seiner Frühzeit die
Scham, wie fast immer in mittelalterlichen Darstellungen,
noch durch die Hand verdeckt, während sie bei der
Eva des Louvre in natürlicherer Weise durch die
herabwallenden Haare verhüllt ist.

Mit besserem Erfolge können wir unsere »Eva«
mit späteren Werken des Veit Stoß vergleichen. Die
»Madonna« vom Stoßhause in Nürnberg2) und die
»Maria« im »Englischen Gruß« (1518) stehen ihr in
der breiteren Gestaltung des Gesichtstypus schon
näher. Die breite Behandlung der Spätzeit des Veit
Stoß findet sich noch ausgesprochener auf zwei Flach-
reliefs mit der »Verkündigung« in der Wolfgangs-
kapelle der Ägidienkirche zu Nürnberg3). Man ver-
gleiche die kurze Gestaltung des Halses, die starke
Hervorhebung des Kinnes, die Bildung der Nase und
der Augenbrauen dieser Figuren mit unserer »Eva«!
Auch die gegen seine frühere Zeit fleischigere Be-

1) Vergl. Daun, B., Veit Stoß und seine Schule in
Deutschland, Polen und Ungarn. Leipzig 1903. 8°. S. 49 f.

2) Daun a. a. O. S. 65.

3) Daun a. a. O. S. 70.
 
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