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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 19.1908

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Michel, Wilhelm: Münchener Winter-Sezession
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St. Petersburger Brief
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https://doi.org/10.11588/diglit.5784#0141

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259

St. Petersburger Brief

260

Ich habe Keller einen Esoteriker genannt. Das
Fremdwort ist in diesem Falle besser als das deutsche.
Von Innerlichkeit kann man bei Keller nicht reden;
ebensowenig weist seine Kunst eigentlich religiöse
Bestandteile auf (womit ich natürlich nicht von seinen
Gegenständen, sondern von seiner künstlerischen Welt-
anschauung gesprochen haben will). Kellers Kunst
hat viel mehr Nerven als »Seele«; insbesondere seinen
weiblichen Bildnissen und den verwandten Figuren-
bildern haftet vid von jenem kalten Psychologisieren des
literarischen Naturalismus an, das sich ganz auf dem
Boden des reinen Nervenlebens bewegt. Die moderne
Dame und das mittelalterliche Hexchen, die Traum-
tänzerin und die lächelnde, männermordende Judith,
die verzückte Nonne und die Märtyrerin stehen in
seinen Werken als verwandte Erscheinungen neben-
einander, verbunden durch das fremdartige Element
der Hysterie. Maler bleibt der Künstler aber bei all
diesen psychologischen Exkursen immer; die Farbe
und der Strich sind es, die Kellers Auffassung von
der weiblichen Psyche in erster Linie charakterisieren.
Man muß beobachten, wie bei der famosen Porträt-
skizze der Madeleine leuchtende rote und gelbe Farben-
ströme durch den dunklen Grund schießen, schlangen-
haft gewunden und verknäult, eine brillante koloristische
Paraphrase zu dem Schaffen und Wirken dunkler
Kräfte in der Seele der hypnotisierten Tänzerin, zu
den gequälten, krampfhaften, willenlosen Bewegungen
ihres Körpers. In dem sonst so leeren Bilde der
Judith, die lächelnd, mit einer akademisch schönen
Pose vor dem enthaupteten Holofernes steht, ist das
feurig-orangegelbe Zelttuch im Hintergrund der haupt-
sächliche Träger des psychologischen Ausdruckes. In
dem Bilde »Spiritistischer Apport« werden die Farben
bleich und atemlos: sie wenden sich gleichsam nach
innen wie die Augen des Mediums und erscheinen
vergeistigt wie dessen ganzes Gesicht. Ähnliches ließe
sich über die farbige Charakteristik in Kellers Damen-
bildnissen sagen.

Es ist ein reiches, glänzendes Künstlerleben, was
diese 145 Gemälde vor Augen führen. Neben all
den meisterhaften, vom sichersten malerischen Können
getragenen Leistungen der älteren und mittleren
Schaffensperiode fällt schließlich die Ermattung der
letzten Jahre nur noch wenig ins Gewicht. Das Werk
Kellers ist der Hauptsache nach abgeschlossen, und
es bleibt nur zu wünschen, daß die öffentlichen
Galerien diese Ausstellung zielbewußt nützen zur
Dokumentierung einer Glanzperiode der Münchener
Malerei.

Beschränkter in ihrem Umfang, weniger geistig,
aber tüchtig, deutsch und derb ist die Kunst des Tier-
malers Charles Tooby, dessen Bilder sich meist in
tiefen, sonoren Farbenakkorden bewegen. Etwas von
der Schwere und der frommen Dumpfheit des Tier-
lebens ist in seine Farbenskala übergegangen und spricht
sich auch in der stets sehr ruhigen, gleichmütigen
Beleuchtung aus. Bei aller strengen Sachlichkeit, die
von Anfang an für Tooby oberstes Gesetz ist, bemerkt
man bei ihm öfters Stimmungswerte feinster, ver-
schwiegenster Art, wie sie sich aus guten optischen

Erlebnissen von selbst ergeben. In dem Gemälde
»Kälber im Stall« (1894) wird durch das vorherrschende
brütende Braun das Dicke und Schwere der Stalluft,
die Eigenart dieses mit dumpfem Leben vollgepfropften
Raumes hervorragend charakterisiert. Toobysglänzende
Formgebung, die stets mit breitem Pinsel und aus-
gesprochen strichmäßigem Vortrag arbeitet, bewährt
sich besonders in dem großen Tigerbilde. Die Ver-
bindung des Tieres mit der Landschaft ist Tooby in
allen Fällen gut geglückt.

Die Kollektion Philipp Klein f läßt klar erkennen,
daß der Künstler nicht nur den Jahren nach, sondern
auch seinem künstlerischen Entwickelungsgange nach
viel zu früh vom Schauplatz des Lebens und Schaffens
hat abtreten müssen. Seine frische wandlungsfähige
Begabung hatte bei seinem Tode noch immer nicht
ihren eigentlichen, endgültigen Weg gefunden. Eine
Zeitlang stand er unter impressionistischen Ein-
flüssen, für die Liebermann (man vergleiche die in
Bewegung und Bodenbehandlung höchst pikanten Reiter-
bilder) und Monet wohl maßgebend waren. Zum
Schluß waren es die reinen, wohlklingenden Farben
der Scholle, die ihn anzogen; ein Rückenakt aus
dem Jahre 1907 zeigt ganz die flüssige Formbehand-
lung, die duftige Aktschilderung, die reizvolle stoff-
liche Charakteristik, wie man sie von Leo Putz her
kennt. Jedenfalls läßt das Bild erkennen, daß Klein
die Härten, die seiner Fleischdarstellung früher an-
hafteten, in kürzester Zeit ganz abgestreift hätte. Be-
deutendes hat er im Stilleben (»Japanische Puppe«)
geleistet; aber die vollendetsten, reinsten Ausdrücke hat
sein Temperament, sein lebendiger Farbensinn, seine
weiche, gefällige Natur in den Landschaften von Via-
reggio gefunden. Es sind lauter frische glückliche
Skizzen kleinen Formates, mit dem sorglosen Auge
des Touristen gesehen, äußerst knapp im Ausdruck,
aber von pikantester, sonntäglicher Heiterkeit erfüllt.
Auf hellbraunem Sandboden, der mit der Meeres-
bläue glücklich kontrastiert, ein paar frische, leuchtende
Farbflecken, einige Badehütten, einige blaue Schatten,
alles auf das feinste gebunden und räumlich brillant
auseinandergezogen — so sind sie echte Eindrücke
von eines Malers Hochzeitsreise. Philipp Klein war
keine große, wohl auch keine sehr tiefe Begabung;
aber er besaß Geschmack und Können, Temperament
und Geschmeidigkeit, und auch diese Gaben haben
ihren Wert. WILHELM MICHEL.

ST. PETERSBURGER BRIEF

(Schluß)

Die Neubauten haben so manchen fremden Zug
in den Anblick unserer Straßen gebracht, auch manchen
störenden Zug. Schlimmeres geschieht durch die
Vernachlässigung und Zerstörung unserer alten Bau-
monumentc. Sie gehören im großen und ganzen
drei Perioden an: aus der Zeit Peters des Großen
und seiner unmittelbaren Nachfolger ist wenig erhalten;
viel mehr aus den Zeiten Elisabeths I. und Katharinas II.,
in der Graf Bartolommeo Rastrelli der Jüngere maß-
gebenden Einfluß ausübte; eine stattliche Anzahl schöner
Gebäude im Empirestil entstand unter Alexander I.,
 
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