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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 20.1909

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Osborn, Max: Berliner Brief
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https://doi.org/10.11588/diglit.5951#0025

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KUNSTCHRONIK

WOCHENSCHRIFT FÜR KUNST UND KUNSTGEWERBE

Verlag von E. A. SEEMANN in Leipzig, Querstraße 13

Neue Folge. XX. Jahrgang

1908/1909

Nr. 3. 23. Oktober.

Die Kunstchronik erscheint als Beiblatt zur »Zeitschrift für bildende Kunst« und zum »Kunstgewerbeblatt« monatlich dreimal, in den Sommer-
onaten Juli bis September monatlich einmal. Der Jahrgang kostet 8 Mark und umfaßt 33 Nummern. Die Abonnenten der »Zeitschrift für bildende
nst« erhalten die Kunstchronik kostenfrei. — Für Zeichnungen, Manuskripte usw., die unverlangt eingesandt werden, leisten Redaktion und
Verlagshandlung keine Gewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E. A. Seemann, Leipzig, Querstraße 13. Anzeigen 30 Pf. für
ie °reispaltige Petitzeile, nehmen außer der Verlagshandlung die Annoncenexpeditionen von Haasenstein & Vogler, Rud. Mosse usw. an.

BERLINER BRIEF
Das Charakteristikum des norddeutschen Kultur-
und Kunstlebens, wie es sich in Berlin präsentiert,
Ist nach wie vor: daß alle Gegenwartsfreude und alle
Zukunftshoffnung auf Einzelheiten gestellt ist, die
sich wie ragende Spitzen aus einem Meer der Mittel-
mäßigkeit erheben und die auch unter sich selbst
nur durch einen losen Zusammenhang verbunden
werden. Was heute wie früher, ja mehr als früher,
fehlt und schmerzlich vermißt wird, ist der große
Strom künstlerischen Lebens, der durch die Gefilde
anderer Länder, auch einiger süd- und westdeutschen
Staaten, fließt und das ganze Gelände befruchtet, so
daß eine organische Einheit zwischen dem Allge-
meinen und dem Besonderen, zwischen dem Durch-
schnitt und jenen Einzelleistungen von Belang ent-
steht. So ist's vor allem in dem künstlerischen Bilde
der Stadt Berlin. In den letzten Jahren hat sich
manches gebessert, wir haben eine ganze Reihe vor-
züglicher Neubauten erhalten, an zahlreichen Stellen
S1nd Häuser entstanden, die von einem unbezweifel-
baren Aufschwung unserer Architektur Kunde geben;
aber unsere Straßen als Gesamtheiten bleiben nach
wie vor häßlich, charakterlos und verworren. Und
wenn heute links etwas Gutes geschieht, ereignet
sich bestimmt morgen rechts etwas Verkehrtes, wenn
nicht gar beides auf denselben Tag fällt. Gegen-
wärtig streben zwei Monumentalbauwerke aus dem
Boden der Hauptstadt ihrer Vollendung zu: der
Riesenneubau der Königlichen Bibliothek und der
Akademie der Wissenschaften Unter den Linden und
oas zweite Rathaus, das »Stadthaus«, im Herzen der
Altstadt. Hier wie dort ist es ein Barockbau, der
emporsteigt. Doch diese scheinbare Verwandtschaft
■st nur eine Handhabe mehr, den eigentümlichen
Kontrast tiefer zu erkennen, der dabei an einem kolos-
salen »Beispiel und Gegenbeispiel« lebendig wird.
|n der Bibliothek, die der Staat errichtet und die der
j-Jberhofbaurat Ernst Eberhard von Ihne entworfen
hat, nimmt noch einmal alles Gestalt an, was kenn-
zeichnend war für die Berliner Architektur des ig.Jahr-
hunderts: die schematische Kopie historischer Stil-
elemente, die kühle, unpersönliche und konventionelle
Verwerfung fleißig studierter geschichtlicher Formen,
'm Stadthause Ludwig Hoffmanns aber sammeln sich
a,e neuen Baugedanken der Zeit zu einem ihrer be-.

deutsamsten bisherigen Pronunciamienti in der Haupt-
stadt. Dabei handelt es sich auch hier nicht um eine
absolute, in der Luft schwebende »Modernität«, son-
dern um die historisch anknüpfende, im Vergangenen
wurzelnde Kunst, mit deren Hilfe Hoffmann und
Messel an die Erneuerung Berlins gegangen sind.
Der Stil dieser Kunst ist jetzt allgemein akzeptiert:
eine Mischung aus barocken und zopfigen Elementen,
die beim Bau größerer Cityhäuser (soweit sie sich
nicht dem reinen Typus des modernen Warenhaus-
Zweckbaus anschließen) nach der barocken, beim
Villenbau mehr nach der zopfigen Seite neigt. Für
jene Gruppe können von den jüngsten Arbeiten der
Architektenschaft die Neubauten des Geschäftshauses
Manheimer an der Ecke der Jäger- und Oberwall-
straße (wobei nur die geschmacklosen Schlußsteine
der Bogenfenster im Erdgeschoß mit modernen Genre-
köpfen stören) und der Darmstädter Bank am Schinkel-
platz als Beispiele gelten. Die andere Gruppe ver-
treten einige vornehme kleine Wohnhäuser in der
Bendlerstraße.

Durch das neueste Verkehrsmittel der Stadt sind
die künstlerischen Ansprüche und Bedürfnisse von
den Straßen sogar — in die Erde eingedrungen:
Die Untergrandbahn stellte neue Probleme. Daß sie
vorzüglich gelöst sind, ist das Verdienst des Archi-
tekten Alfred Grenander, der bei der Ausgestaltung
der kürzlich eröffneten neuen Strecke (vom Leipziger-
platz bis zum Spiftelmarkt) seine schon früher vor-
trefflichen Leistungen auf diesem Gebiete noch über-
holt hat. Vernehmlicher als an allen anderen Stellen
hat sich hier der künstlerische Geist der Gegenwart
durchgesetzt; denn hier handelte es sich ja eben darum:
aus der reinen Zweckmäßigkeit und dem Charakter
des verwendeten Materials, des Eisens, heraus gefällige
Formen zu finden, das Konstruktive klar hervortreten
und doch auch angenehm erscheinen zu lassen, für
das Maschinelle, Technische, Ingenieurhafte von Ge-
bilden, die frühere Epochen überhaupt nicht kannten,
charakteristische und zugleich schöne Formen zu
schaffen. Das hat Grenander mit bewundernswerter
Erfindungs- und Arbeitskraft erreicht. Seine zahllosen
Zeichnungen für jedes einzelne Teilchen, das dem
Auge sichtbar wird, sind geboren aus einer unbestechlich
ernsten Sachlichkeit, die durch sich selbst den Weg
zu ästhetischen Wirkungen findet. Jeder äußerlich an-
 
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