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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 20.1909

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Hevesi, Ludwig: Neurussische Malerei
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https://doi.org/10.11588/diglit.5951#0065

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KUNSTCHRONIK

WOCHENSCHRIFT FÜR KUNST UND KUNSTGEWERBE

Verlag von E. A. SEEMANN in Leipzig, Querstraße 13

Neue Folge XX. Jahrgang 1908/1909 Nr. 8. 4. Dezember.

Die Kunstchronik erscheint als Beiblatt zur »Zeitschrift für bildende Kunst« und zum »Kunstgewerbeblatt« monatlich dreimal, in den Sommer-
monaten Juli bis September monatlich einmal. Der Jahrgang kostet 8 Mark und umfaßt 33 Nummern. Die Abonnenten der »Zeitschrift für bildende
Kunst« erhalten die Kunstchronik kostenfrei. — Für Zeichnungen, Manuskripte usw., die unverlangt eingesandt werden, leisten Redaktion und
Verlagshandlung keine Gewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an e. A. Seemann, Leipzig, Querstraße 13. Anzeigen 30 Pf. für
die dreispaltige Petitzeile, nehmen außer der Verlagshandlung die Annoncenexpeditionen von Haasenstein & Vogler, Rud. Mosse usw. an.

NEURUSSISCHE MALEREI
Von Ludwig Hevesi
Die Wiener Sezession hat ihren Jahrgang mit
einer russischen Ausstellung begonnen. Dreißig
Maler und Zeichner der verschiedensten Idealitäten,
die in Rußland selbst, bei der Leidenschaftlichkeit
ihres Parteigängertums, kaum unter einen Hut zu bringen
wären. Herr Filippoff, Herausgeber der Kiewer Kunst-
zeitschrift »W Mirje Iskustw« (nicht zu verwechseln
mit der einstmaligen Petersburger »Mir Iskustwo«),
hat sich diese große Mühe gegeben. Einiges davon
habe ich schon vorigen Sommer in Venedig gesehen,
das meiste ist aber neuer Nachschub. In der Brust
dieser Malerei wohnen zwei Seelen: eine moskowitische
und eine pariserische; Moskau und Paris natürlich
im weitesten Sinne genommen. Sie hat einerseits die
klammernden Organe, mit denen sie sich in der fetten
Heimatsscholle festkrallt, und andererseits libellenhafte
Flügel, mit denen sie bis weit in die vierte Dimen-
sion entflattert. Aber freilich ist ja auch die ehr-
würdige, stockrussische Seholle durchaus mit west-
lichen Befruchtungen imprägniert. Die prächtige Bar-
barei des großen Peter, wie ihn Dobaschinski spreiz-
beinig und geharnischt angesichts aller Kulturwelt
hinpflanzt, ist doch inkognito in die westliche Schule
gegangen. Auch darin ist sein Bild ein Symbol
seines Volkes. Die eigentümliche Zweiseeligkeit der
ganzen russischen Kultur zeigt sich selbst in den
ultranationalen Schöpfungen Nikolaus Roerichs, der
heute an der Spitze der russischen Modernen patrio-
tischer Observanz steht. Welch feiner Europäer er
ist, beurteilt man am besten, wenn man seinen ele-
ganten französischen Text zu dem Buche »Talasch-
kino« liest, in dem er das national erweckte Kunst-
gewerbe der Fürstin Tenischeff und ihres Kreises be-
handelt. Und man hat ja früher seine ganz in heroische
Wikingerstimmung getauchten Bilder gesehen, diese
purpurbesegelten Wolgaschlachten und Ostseesiege
auf stilisiertem Wogenblau, die von der ganzen
Archäologie eines nordischen Freilichtmuseums (Skan-
sen, Bygdö) strotzen. Das ausgegrabene Wikinger-
schiff in jenem stillen Schuppen zu Christiania fährt
wenigstens in effigie wieder über die Meerflut; Ellida,
das Schilf Frithjofs (wenige wissen, daß Ibsens »Frau
vom Meere« deshalb Ellida getauft ist) ist aus Roerichs
Trockendock wieder kampfbereit ausgelaufen. Archäo-

logie, Sage, Ethnographie, arktische Forschung, alles
ist Futter für unsere moderne Romantik. Gerade so
wie in der Hochrenaissance, die gemeiniglich eher
für etwas Klassizistisches gilt. Mein Gott, man lese
(um Shakespeare aus dem Spiele zu lassen) die Dramen
Marlowes; am besten das zehnaktige Doppelstück
Tamerlan (»Tambourlayne the Great«), in dessen Sint-
flut von Versen der ganze damalige Roerich mit-
schwimmt, nämlich die gesamte Navigationskunde
und Astronomie der Weltumsegier, nebst der ganzen
Archäologie und Ethnographie der damals entdeckten
neuen Weltteile und exotischen Völkerschaften. Dichter
und Künstler waren überhaupt immer romantisch
(die antiken nicht ausgenommen); wer nicht roman-
tisch war, war eben Handwerker. Doch um auf
Roerich zurückzukommen, ihm war selbst das soge-
nannte »hölzerne Rußland«, mit seinen Blockhäusern
und Blockkathedralen {Maljatin setzt ein solches Bild,
statt es zu malen, lieber gleich aus echten Lang- und
Rundhölzern zusammen), ihm war dieses so urkultur-
lich aussehende Blockrußland schon zu gefälscht, zu
beleckt, zu übersetzt. Diesem voraus lag ein proto-
zoisches Rußland (»Die Slaven am Dnjepr«), eines
mit lehmumwallten Lehmhütten über hohen Lehmufern,
mit einer lappländisch aussehenden, schier schon
eskimoähnlich bekleideten und bewaffneten Bevöl-
kerung. Ein steinzeitliches Rußland, La Tene-Periode
höchstens, russisches Hallstatt; mit Helden, die nur
noch in der Saga leben und vom Volke gesungen
werden. Ein durch ungeheure Entfernung stilisiertes,
auf einfachste Züge und Farben zurückgeführtes Ruß-
land, das sich von selbst in Fresko oder in Mosaik
überträgt. Wie im nachbarlichen Finnland die Helden
des Kaiewala »Wäinämöinen der Alte« (den schon
Goethe aus Klaproth übersetzt), denen in unseren Tagen
durch Axel Gallen so fröhliche Urständ zuteil ge-
worden. Diese Mitternachtssonne beleuchtet jetzt die
nordische Malerei und es ist hochinteressant, wie
Roerichs großes Talent solche Urwelt schildert. Er
hat etwas von der Phantasie, mit der die Totempfähle
der peruanischen Indianer geschnitzt wurden, und
schreibt dabei tadellos französisch über die rustiken
Neukünste von Talaschkino.

Dann hat aber der malende Nationalstolz noch
ein anderes unermeßliches Rußland, ein greifbareres
zugleich; in seinem achtzehnten Jahrhundert. Mit allen
 
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