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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 20.1909

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Ein nationaler Verlust
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https://doi.org/10.11588/diglit.5951#0217

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KUNSTCHRONIK

WOCHENSCHRIFT FÜR KUNST UND KUNSTGEWERBE

Verlag von E. A. SEEMANN in Leipzig, Querstraße 13

Neue Folge. XX. Jahrgang 1908/1909 Nr. 26. 21. Mai.

Die Kunstchronik erscheint als Beiblatt zur »Zeitschrift für bildende Kunst« und zum »Kunstgewerbeblatt« monatlich dreimal, in den Sommer-
monaten Juli bis September monatlich einmal. Der Jahrgang kostet 8 Mark und umfaßt 33 Nummern. Die Abonnenten der »Zeitschrift für bildende
Kunst« erhalten die Kunstchronik kostenfrei. — Für Zeichnungen, Manuskripte usw., die unverlangt eingesandt werden, leisten Redaktion und
Verlagshandlung keine Gewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E. A. Seemann, Leipzig, Querstraße 13. Anzeigen 30 Pf. für
die dreispaltige Petitzeile, nehmen außer der Verlagshandlung die Annoncenexpeditionen von Haasenstein & Vogler, Rud. Mosse usw, an.

EIN NATIONALER VERLUST
Schon seit Jahren ist in der National Gallery in
London Hans Holbeins Bildnis der Herzogin Christine
von Mailand als Leihgabe des Herzogs von Norfolk
ausgestellt. Die englischen Kunstfreunde hatten sich
daran gewöhnt, das unvergleichliche Kunstwerk, das
gegenüber den »Gesandten« hing, gleichsam als der
Nation zu eigen zu betrachten. Eingeweihte wußten
freilich längst, daß der Herzog damit umging, diesen
kostbaren Schatz zu veräußern. Er ist immens reich,
aber die zahlreichen Verpflichtungen, die er als Haupt
der katholischen Propaganda in England auf sich ge-
laden hat, beginnen nunmehr auch seinem Kunst-
besitz gefährlich zu werden. Der Herzog von Nor-
folk hat jetzt das Gemälde, eins der wenigen Bild-
nisse in ganzer Figur, die der jüngere Holbein aus-
geführt hat, wie man sagt, um 61 000 Pfund an die
Firma P. und D. Colnaghi verkauft und schon taucht
in nicht mehr ganz schattenhaften Umrissen als selbst-
verständlicher Bewerber der schönen Christine Mr.
Pierpont Morgan auf. Die Londoner sind ob dieser
Überraschung etwas verdutzt und schlagen Lärm.
Man macht den Versuch, der National Gallery durch
öffentliche Sammlungen zu Hilfe zu kommen. Das
Stichwort lautet: »A national loss . . .«

Sagen wir mit größerem Rechte: ein nationaler
Verlust. Ist er noch abzuwenden? Wir haben den
Morett und den Jörg Gisze, aber uns will bedünken,
daß Holbein in dem schlichtvornehmen Bilde der
jungen Witwe Francesco Sforzas sein Allerbestes ge-
geben habe. Wie vielen deutschen Kunstfreunden
mag es in London wie dem Schreiber dieser Zeilen
ergangen sein, daß sie erstaunt den übergroßen Ruhm
dieser schwerfälligen und anspruchsvollen »Maschine«,
genannt »Die Gesandten«, mit der Wirkung ver-
glichen, die das Bild tatsächlich ausübt (wenigstens
auf den Unverbildeten) und wie ihnen dann das
Christinenbild den Glauben an den Holbein wieder-
gegeben hat, dem man in den Kunstgeschichtskom-
pendien nun einmal den Platz neben Dürer und
Grünewald gegeben hat. Es scheint, man beginnt
erst jetzt, da die amerikanische Gefahr bevorsteht, sich
ernsthaft mit diesem Wunderwerk zu beschäftigen,
das in der Literatur auch noch nicht den zehnten
Teil von dem beanspruchen kann, was den »Ge-
sandten« vergönnt wurde.

Vielleicht ist es gerade die Einfachheit der Mittel
— im Gegensatz etwa zu all den klugen Einfällen
des Gisze —, die dem Londoner Bilde eine so
leidenschaftliche Anhängerschaft erschufen. Man er-
innert sich jetzt daran, wie aus dem herrlich gemalten
tiefen Schwarz und Pelzbraun der Trauerkleidung und
aus dem Blau des Hintergrundes ganz hell in hell
modelliert das fast kindlich-jugendliche Antlitz mit den
saftigroten Lippen, die so gerne lachen möchten, auf-
leuchtet. In den blassen Händen die hellgraugelben
Handschuhe, der Goldring mit dem Rubin am Ring-
finger der Linken, wie ist das alles gesehen und mit
einer bestrickenden Leichtigkeit, dabei ganz unvirtuos,
wiedergegeben. Im Auftrage Heinrichs VIII. hat Hans
Holbein das Bild in Brüssel, wo Christine am Hofe
ihrer Tante, der Regentin, lebte, im Jahre 1538 aus-
geführt. Es war nach dem Tode der Jane Seymour.
Es ist nicht Holbeins Verschuldung, wenn aus der
geplanten Verbindung nichts wurde.

Dieses Meisterwerk nun, das einst Whitehall ge-
schmückt hat, ist nie in Deutschland gewesen. Sollen
wir deshalb die Hände in den Schoß legen, da es
mit London auch dem Kontinent entfremdet werden
soll? Wir möchten schon froh sein, so unwahr-
scheinlich es auch klingt, wenn einer der großen
deutschen Sammler, die ja für Raffael und Rem-
brandt Rekordsummen angelegt haben, dem New
Yorker Nabob zuvorkäme. Und wenn eine unserer
öffentlichen Galerien diese Konjunktur, wie sie nie-
mals wiederkehrt, benutzen würde, ob dann nicht
eine geschickte Bearbeitung der Presse imstande wäre,
die Öffentlichkeit derartig für den Fall zu interessieren,
daß ein Jahr nach dem Zeppelinbegeisterungssturm
auch der alten deutschen Kunst einmal eine tatkräftige
Freundschaft erwüchse, die über die boshafte Freude
an der Entpuppung gefälschter kölnischer Madonnen
und über Touristen - Begeisterung in Nürnberg und
Rotenburg hinausginge?

Aber wir fürchten, wenn diese Zeilen im Druck
erscheinen, ist es zu spät. Dann seien sie ein Nekrolog
für Christine, Prinzessin von Dänemark, Herzogin von
Mailand, gemalt von dem deutschen Hofmaler Hans
Holbein, jetzt Fifth Avenue, New York, U. S. A.
 
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