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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 21.1910

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Schumann, Paul: X. Tag für Denkmalpflege
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https://doi.org/10.11588/diglit.5952#0020

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X. Tag für Denkmalpflege

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der Hand der vorhandenen Baureste für Altar, Kanzel,
Orgelprospekt und Stuckverzierungen Vorschläge
machen sollen. Der Vortragende schloß mit der Er-
klärung, nach seiner Überzeugung hätten die Ham-
burger führenden Kräfte wohl die Anerkennung ver-
dient, daß sie im Streben, ihr Gotteshaus in den
Formen der Überlieferung wiederaufzubauen, auch
allen Forderungen einer geordneten Denkmalpflege
entsprochen haben.

Den entgegengesetzten Standpunkt vertrat mit
großer Entschiedenheit Prof. Högg aus Bremen. Er
erklärte die Gründe, die alte Gestaltung beizubehalten,
für unzulänglich; überdies sei die Kirche kein archi-
tektonisches Meisterwerk gewesen: es fehlte ihr wegen
des völlig verfehlten absoluten Maßstabes die Größen-
wirkung; unerfreulich war das zerschnittene, ängst-
lich aufliegende Dach, das unbedeutende lederne
Fenstermotiv; endlich ging der Turm im Stil keines-
wegs mit dem Kirchenbau zusammen. Der Neubau
ist nach Prof. Höggs Urteil technisch allerdings ein
Meisterwerk. Aber die neue Technik und die alte
Form haben sich als unvereinbar erwiesen. Des
Eisenbetons wegen mußten die alten Gesimsformen
verändert werden. Dach und Turm entsprechen nicht
unseren Konstruktionsmöglichkeiten. Im Innern müssen
praktische und baupolizeiliche Forderungen — Weg-
fall der Emporenstützen, der Beichtstühle und Bet-
stübchen, veränderte Stellung der Kanzel — zu einer
völligen Neuschöpfung führen. Den sechs Bildhauern
wurde die Freiheit genommen, denn in den Wett-
bewerbsbedingungen heißt es: Der Bewerber hat in
seinem Entwurf die Raumbildung und den Stil-
charakter der alten Kirche beizubehalten.

Der Wettbewerb wurde auch gegen den Willen
der vier Baumeister ausgeschrieben, denen man offen-
bar das Vermögen zur künstlerischen Ausgestaltung
des Innenraumes nicht zutraute. Der Kern der Sache
ist, daß man überhaupt zu dem schöpferischen Ver-
mögen unserer heutigen Architekten kein Vertrauen
hat, ganz besonders nicht bei Kirchenbauten. Aber
durch das gegenwärtige Vorgehen unterbindet man
geradezu erst die Möglichkeit, daß sich der neue Stil
ausbilde. Dieser Stil unserer Zeit aber, so betonte
Prof. Högg mit starkem Ernst, ist da, und unsere
besten Künstler wandeln auf neuen Bahnen. Mögen
sie auch noch nicht immer völlig Ausgereiftes, Ab-
geklärtes schaffen, es ist unsere Pflicht, ihnen die
Gelegenheit zum Schaffen zu geben. Niemand hat
verlangt, daß die Ruine der Michaeliskirche vollstän-
dig abgebrochen werde. Die geretteten Teile sollten
nicht angetastet werden und der großartige Raumge-
danke sollte ebenfalls erhalten bleiben. Aber im üb-
rigen sollte man den modernen Architekten Freiheit
geben zu schaffen und zu verschönern — besonders
beim Innenraum und beim Turm. Für die freie Ge-
staltung des Innenraumes ist auch jetzt noch Zeit.
Geht man den alten Weg weiter, so wird hoffent-
lich die Hamburger Michaeliskirche das letzte Bei-
spiel dieses verfehlten Vorgehens sein. Auch dann
sind die 31/2 Millionen nicht ganz vergebens ge-
flossen !

In der Debatte vertrat Staatssekretär Dr. Hage-
dorn den auf Empfindung und Anhänglichkeit am
Alten gegründeten hamburgischen Standpunkt, Geh.
Oberbaurat Hof mann den der Kommission, Geh. Hof-
rat Prof. Ourlitt-Dresden den der freien Architekten-
schaft. Prof. £>e/z/o-Straßburg wies auf die gänzlich
verschiedenen Ideenkreise hin, die Högg und Hage-
dorn vertreten. Die gemütlichen Faktoren würden
aus der Welt nicht verschwinden. Er richtete daher
an seine Gesinnungsgenossen die Bitte, sie möchten
von Zeit zu Zeit auch einmal tolerant sein, nicht
gegen Prof. Webers historische Anschauungen, wohl
aber gegen die Auschauungen der Hamburger.

Prof. Weber aus Danzig vertrat in seinem Vortrag
über die Stilfrage bei Wiederherstellungen alter Bau-
lichkeiten ganz einseitig den historischen Standpunkt.
Tote Bauwerke, die keinem Zwecke mehr dienen, soll
man, wenn sie wertvolle Denkmäler vergangener
Zeiten sind, in ihrem Bestand erhalten. Lebende
Bauten, die heute noch ihrem Zweck dienen, soll
man in ihrem historischen Stil restaurieren und auch
nötig werdende Zutaten und Anbauten im alten Stil
halten. Im modernen Stil könne man nicht bauen;
ein moderner Stil sei nicht vorhanden und sei auch
unmöglich, weil ein solcher nur aus einer einheit-
lichen Geisteskultur und Weltanschauung entstehen
kann und wir eine solche nicht haben. Die Versuche
moderner Stilbildung kennzeichnen sich — nach An-
sicht des Redners — durch Willkürlichkeiten, durch
absolute Nacktheit oder durch Vergewaltigung der
Tektonik. Ansätze zu einem neuen Stil seien nur
vorhanden in Beleuchtungskörpern und in Versuchen
zu neuer Ornamentik. Doch handelt es sich dabei
um Experimente. Mit alten Bauten aber darf man
nicht experimentieren.

Einen wesentlich anderen Standpunkt vertrat der
Kölner Beigeordnete Landesbaurat a. D. Rehorst. Man
soll nur dann im alten Stil restaurieren, wenn man
einzelne Teile eines alten Bauwerks wiederherzustellen
hat, deren ursprüngliche Form ganz unzweifelhaft be-
kannt ist, wie z. B. am Kölner Dom oder am Wetz-
larer Dom. Bei solchen unumgänglichen Erneuerungs-
arbeiten im alten Stil geht allerdings viel malerischer
Reiz, viel Stimmungswert verloren, deshalb müssen
solche Arbeiten wenigstens stets in die Hände ge-
nauer Kenner des betreffenden alten Stils gelegt wer-
den. Es handelt sich dabei um höheres Kunsthand-
werk, um reproduktive Spezialistenarbeit, die allerdings
den feinsten Geschmack erfordert. Dagegen sollen
alle Erneuerungen selbständiger Bauteile, alle Ver-
größerungen, An- und Aufbauten, neue Wandmale-
reien usw. in freier moderner Stilgebung ausgeführt
werden.

Gerade die Ehrfurcht vor unseren alten Baudenk-
mälern soll uns von dem Versuch abhalten, ihnen
Bauteile anzufügen, die im besten Falle mehr oder
minder gelungene Imitationen und geeignet sind, den
ursprünglichen Baugedanken zu verwischen. Neunzig
von hundert im alten Stil restaurierte Bauten kann
man nur mit dem Ausdruck des Bedauerns betrachten;
die Nachahmung neben dem Alten hat eine unge-
 
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