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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 21.1910

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Osborn, Max: Berliner Brief, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.5952#0065

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KUNSTCHRONIK

WOCHENSCHRIFT FÜR KUNST UND KUNSTGEWERBE

Verlag von E. A. SEEMANN in Leipzig, Querstraße 13
Neue Folge. XXI. Jahrgang 1909/1910 Nr. 8. 3. Dezember.

Die Kunstchronik erscheint als Beiblatt zur »Zeitschrift für bildende Kunst« monatlich dreimal. Der Jahrgang kostet 8 Mark und umfaßt 40 Nummern.
Die Abonnenten der »Zeitschrift für bildende Kunst« erhalten die Kunstchronik kostenfrei. — Für Zeichnungen, Manuskripte usw., die unverlangt
eingesandt werden, leisten Redaktion und Veiiagshandlung keine Gewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E.A.Seemann,
Leipzig, Querstraße 13. Anzeigen 30 Pf. für die dreispaltige Petitzeile, nehmen außer der Verlagshandlung die Annoncenexpeditionen an.

BERLINER BRIEF
Kunstberlin hat wieder seine Sensation. Der
Kampf um die Wachsbüste tobt täglich wilder und
wilder, und noch ist kein Ende des grimmen Streites
abzusehen. Es soll an dieser Stelle nicht in eine
materielle Prüfung der Angelegenheit eingetreten wer-
den, die Berufeneren überlassen sei; nur über die
Formen, in denen die Kontroverse sich bewegt, muß
der Chronist ein Wort sagen. Er muß Klage führen
über den Mangel an Urbanität, mit dem man der
Museumsverwaltung die sachliche und ruhige Prüfung
des gewiß verwickelten Falls erschwert; über den
Schimpfton, der eingerissen ist und der sich als das
bedenkliche Symptom einer ungesunden Reizbarkeit
darstellt; auch über die aufgeregte und törichte Form,
in der falsche Freunde des Museums seine Sache zu
führen vermeinen, um nur noch größere Verwirrung
anzustiften. Eine Angelegenheit, die lediglich die
Kenner zu entscheiden vermögen, wird zum Objekt
des öffentlichen Parteigezänks, wird in Sphären hinein-
gezogen, in denen sie gar nichts zu suchen hat. Und
die Kehrseite des von Hause aus recht gesunden
kritischen Skeptizismus, über den das Berlinertum ver-
fügt: seine Neigung zum Zerstören von Bewunderung
und Vertrauen gegenüber verdienten Persönlichkeiten,
zeigt sich im häßlichsten und grellsten Lichte.

Die »Hetz«, die sich an die Erwerbung der lio-
nardesken Büste und die Eruptionen englischer Eifer-
sucht über diesen deutschen Besitz angeschlossen hat,
nimmt die allgemeine Aufmerksamkeit so sehr in An-
spruch, daß sie kaum Zeit hat für die stattliche Zahl
vortrefflicher Ausstellungen, die gerade jetzt von den
privaten Salons geboten werden. Nur die Hans
Thoma-Ausstellung, die Ourlitt als eine nachträgliche
Feier zum siebzigsten Geburtstage des Künstlers ver-
anstaltet hat, findet freudige und lebhafte Beachtung.
Und das festliche Gedränge, das man hier täglich an-
treffen kann, ist darum besonders sympathisch, weil
diese Zusammenstellung Thomascher Werke geeignet
ist, uns über das beste Können des Meisters von
Karlsruhe weit gründlicher zu unterrichten als alles,
was wir von ähnlichen Veranstaltungen jemals in
Berlin sahen. Mit Absicht scheint das Landläufige
vermieden zu sein, also diejenigen Bilder der letzten
Epoche, die sich zwar großer Popularität erfreuen,
aber ihren künstlerischen Qualitäten nach nicht in die
erste Reihe von Thomas Lebenswerk gehören. Und

mit Glück hat man aus weit verstreutem Privatbesitz
nicht nur aus der Frühzeit, sondern auch aus den
folgenden Entwicklungsetappen das malerisch Reifste
hervorgeholt, wäs zu finden war. Die Liste reicht
von 1863 bis 1907, darunter zahlreiche selten oder
nie gesehene Einzelheiten, die unser Wissen und
unsere Vorstellung vom Schaffen dieses Malers be-
deutsam ergänzen. Die Legende von dem »nicht
malen könnenden« Thoma, die als ein Appendix der
Legende von dem nicht malen könnenden Böcklin in
die Welt gesetzt wurde, wird hier schlagend wider-
legt. Deutlich erkennt man die sehr bestimmte Linie
von einer soliden, ganz auf materielle Farbigkeit (fast
im Leibi-Sinne) gerichtete Malerei zu einer Kunst, die
anderes im Auge hat, als Weltdinge nach ihrer stoff-
lichen Erscheinung zu charakterisieren. Zuerst herr-
schen die Anklänge an den Courbetton des Ramberg-
kreises vor. Der wenig bekannte »Sommermorgen«
von 1863 mit den warmen Klängen eines begrünten
Seeufers, die bekanntere »Hühnerfütterung« des folgen-
den Jahres, dann die ausgezeichneten Arbeiten aus
den siebziger Jahren, aus der Zeit nach der Berührung
mit Leibi und Trübner in München, wie die Frau
am Fenster (1877, bei Frau Dr. Eiser in Frankfurt),
die das alte C. D. Friedrich-Kersting-Schwind-Motiv
aus zaghafter Romantik in einen beherzten Realismus
überträgt, oder die »Kahnfahrt« (von 1872) mit ihren
weichen und doch kräftigen dunkelnden Tönen, weiter
die prachtvollen Blumenstöcke auf fast schwarzem
Grunde aus dem folgenden Jahrzehnt (vor allem ein
Strauß bei E. Küchler in Frankfurt war mir neu) —
das sind einige Angelpunkte der Ausstellung, um die
sich die Gemälde der benachbarten Jahre gruppieren.
Dabei erkennt man dann, wie die Tendenz zu festen
und vielsagenden Linien, zu einer redlichen Deutlich-
keit ausgewählter Details, die man als altdeutsche Erb-
schaft ansprechen darf, immer entschiedener in den
Vordergrund rückt. Wundersam sind wieder die
Dokumente der Italienfahrt von 1874—75. Das
schönste darunter ist ein Aquarell der Villa Borghese,
von einer milden Heiterkeit der sparsam hingesetzten,
hellgrünen Tupfflecke, die dem Auge ein kleines Fest
bereitet. Aus der Erinnerung taucht dann ein Weg
nach Sorrent (1884, bei B. Lippert in Magdeburg),
ein Blick auf die boromäischen Inseln (1880, ebenda)
auf — charakteristische Umdichtungen italienischer
Stimmungen in eine nordische Sprache. Und hübsch
 
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