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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 21.1910

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Schottmüller, Frida: Leonardo oder Lucas?: zur Echtheitsfrage der Berliner Flora
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https://doi.org/10.11588/diglit.5952#0073

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KUNSTCHRONIK

WOCHENSCHRIFT FÜR KUNST UND KUNSTGEWERBE

Man«

Verlag von E. A. SEEMANN in Leipzig, Querstraße 13
Neue Folge. XXI. Jahrgang 1909/1910 Nr. 9. 10. Dezember.

Die Kunstchronik erscheint als Beiblatt zur »Zeitschrift für bildende Kunst« monatlich dreimal. Der Jahrgang kostet 8 Mark und umfaßt 40 Nummern.
Die Abonnenten der »Zeitschrift für bildende Kunst« erhalten die Kunstchronik kostenfrei. — Für Zeichnungen, Manuskripte usw., die unverlangt
eingesandt werden, leisten Redaktion und Verlagshandlung keine Gewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E.A.Seemann,
Leipzig, Querstraße 13. Anzeigen 30 Pf. für die dreispaltige Petitzeile, nehmen außer der Verlagshandlung die Annoncenexpeditionen an.

LEONARDO ODER LUCAS?
Zur Echtheitsfrage der Berliner Flora.

Eine lebensgroße Halbfigur vom Anfang des Cin-
quecento, die mit dem Stil Leonardos da Vinci nahe
Verwandtschaft hat und sich gleichermaßen durch
hohe Qualität, eine zum großen Teil gute Erhaltung und
das so überaus seltene und eigenartige Material, bemaltes
Wachs, auszeichnet, bedeutet in unserem heutigen
Kunstbesitz etwas absolut Einzigartiges. Nur die viel-
berühmte Mädchenbüste im Musee Wicar in Lille ist
neben ihr zu nennen. Sie wurde früher Raffael zuge-
schrieben und soll vor nicht allzu langer Zeit auf eine
halbe Million Francs eingeschätzt worden sein, das heißt
auf bald das Dreifache des vielbesprochenen Preises
unserer Flora. Die Liller Büste ist sehr viel kleiner,
nur etwa dreiviertel lebensgroß, hat verschwommene
Formen, die voller Reiz, doch ohne charakteristischen
Zeitstil sind; nur Kopf und Hals sind an ihr von
Wachs, das Gewand bemalter Ton, der Sockel ver-
goldetes Holz. Die Halbfigur der Flora hingegen ist
ganz aus Wachs, ein Hohlguß, der bis auf die heute
fehlenden Unterarme in einem Stück, aber mehreren
Schichten gegossen ist. Alle anderen Wachsarbeiten,
die aus der Renaissance auf uns gekommen (es
sind nicht allzu viele) sind kleineren Umfanges, die
meisten Modelle oder Skizzen, in der Masse gefärbt
oder einfarbig angestrichen.

Trotz so großer Vorzüge sollte die Berliner
Flora erst durch ein sehr überraschendes Vorkomm-
nis berühmt werden. Die Publikation im Burlington
Magazine (Mai 1909) wie Ankauf und Ausstellung
im Kaiser-Friedrich-Museum hätten das nicht ver-
mocht. Nein, erst die Zweifel an ihrer Echtheit,
ihrem Alter und ihrer Herkunft haben ihr das In-
teresse auch sonst nicht kunstsinniger Kreise ein-
gebracht. Die Angriffe kamen in einer genauen
Formulierung mit scheinbar wirklich erbrachten Be-
weisen von England herüber, und sehr rasch fanden
sie — ohne daß man den Tatbestand wirklich ge-
prüft hatte — in vielen deutschen Tagesblättern be-
geisterten Widerhall. Sie stellten die folgende Be-
hauptung auf:

Die Berliner Flora ist keineswegs ein Werk der
italienischen Renaissance, vielmehr um 1846 von
einem Restaurator und Bildhauer, Richard Cockle Lucas
(1800—1883), geschaffen. Es geschah im Auftrage
des Kunsthändlers Buchanan, als Vorlage aber diente

das (schlecht erhaltene und sehr übermalte) Florabild
eines Leonardo-Nachfolgers, das 1846 (Auktion vom
4. Juli bei Christie) von Buchanan an Mr. Norton
kam und heute bei Mr. Morrison in Basildon Park
ist. Lucas erhielt das Bild durch den Hauptmann
Bredmore, der Buchanan bei ihm einführte, und sein
damals achtzehnjähriger Sohn Albrecht Dürer Lucas
(der einundachtzigjährig noch heute in Southampton
lebt) hat eine erstaunlich schlechte Kopie nach dem
Gemälde angefertigt. (Sie ist im Jahrb. d. pr. Kunst-
sammlungen 1909, Heft 4, das Bild selbst in der
Woche Nr. 46 abgebildet). Die Aussagen der Nächst-
beteiligten gehen hier schon in einem Kardinalpunkte
auseinander: einmal soll Lucas die Büste nach dem
Originalbild geschaffen und der Sohn die Kopie nur
zur Übung gefertigt haben (Mc. Curdy Times 2. XI.),
ein andermal (London lllustrated News 30. X.) wird
die Kopie als Vorlage für die Skulptur angegeben; auf
jeden Fall stand dem Künstler das Original nur bis zur
Versteigerung von 1846 zur Verfügung. Der Sohn
will die Blumen im Haar bemalt und die in der rechten
Hand selbst modelliert haben. Ausführlich wird ge-
schildert, wie er das langstenglige Büschel im Bild
für das plastische Werk in ein Bukett mit kurzen
Stilen habe umkomponieren müssen. Davon ist weiter
unten noch einmal zu sprechen. — Sehr auffallend
ist ferner, daß Lucas d. A. sich nur so oberflächlich
an das gegebene Vorbild hielt. Er sollte eine Leo-
nardeske Plastik schaffen und wählte statt des Typus
im Morrisonschen Bilde, der für die späte Leonardo-
Schule charakteristisch ist, antike Formen; vielmehr
solche, die zumeist an einen antiken Gott in Leo-
nardesker Prägung, den Bacchus im Louvre, erinnern;
die aber in den zumeist in England bekannten Frauen-
bildern aus dem Umkreis des großen Florentiners
höchst selten sind.

Noch entschiedener spricht aber ein anderes
gegen die Autorschaft von Cockle Lucas. Das sind
die Qualitätsunterschiede zwischen der Büste, den
Bildern und den authentischen Skulpturen des
Southamptoners. Denn die Büste überragt die beiden
Gemälde, auch das Morrisonsche, ebenso sehr an
Feinheit der Bewegung, wie im Reichtum der Model-
lierung. (Die besterhaltenen Teile der Büste, z. B.
der Übergang vom Hals zur Brust, müssen als Zeugen
hierfür herangezogen werden.) Und Lucas' Oeuvre,
das mir zum großen Teil in Originalen oder Photo-
 
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