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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 21.1910

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Schottmüller, Frida: Leonardo oder Lucas?: zur Echtheitsfrage der Berliner Flora
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https://doi.org/10.11588/diglit.5952#0075

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Leonardo oder Lucas?

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gebracht, oder aus der Familie seiner Frau, Cowper,
erhalten, ist noch nicht festgestellt. Jedenfalls blieb
es vor der Hand im »Turm der Winde« in Chilworth
und ging mit diesem einige Jahre später an Mr. Simp-
son über. Damals soll von dem rechten Arm noch
etwas mehr erhalten gewesen sein. (Das Fragment
der rechten Hand kam nachträglich ins Berliner
Museum; sie ist durch die vornehme edle Form des
Daumens mit einem feingeformten Nagel ausgezeichnet.)
Von Simpson kam die Büste 1904 an Mr. Mann, dann
an den Restaurator und Maler Walter Long, der sie
vier Jahre hatte. Danach gelangte sie durch die
Kommission von Mr. Spark an einen herumziehenden
Händler, der sie zu Spinks bekannter Firma nach
London brachte. Von ihr erwarb sie Mr. Murray
Marks. Im Sommer 1909 ging sie in den Besitz des
Berliner Museums über. Der Einkaufspreis war in
der letzten Etappe sehr in die Höhe gegangen, nicht
nur weil die Büste inzwischen in der vornehmsten
Kunstzeitschrift von England im Zusammenhang leonar-
desker Kompositionen publiziert worden, auch weil
ein Kenner vom Ruf eines Murray Marks die Rarität
eines solchen Stückes wohl zu schätzen wußte, und
weil ihm von Amerika her schon ein viel höheres
Angebot gekommen war. Die Times vom 2. Oktober
bedauert den Verlust der Büste für England lebhaft.

Die Angaben über die Entstehung der Flora um
1846 sind keineswegs eine * lückenlose Kette von Be-
weisen«, nein, mit so vielen Widersprüchen und Un-
wahrscheinlichkeiten durchsetzt, daß man selbst dann
noch zweifeln könnte, wenn die Mehrzahl der Be-
hauptungen sicher erwiesen, und das Können von
Lucas wie der Stil seiner Zeit die Entstehung der
Büste um die letzte Jahrhundertmitte vermuten ließe.
Aber in Wahrheit ist ja für beides das Gegenteil der
Fall. Der wichtigste Zeuge, der heute einundachtzig-
jährige Maler Albrecht Dürer Lucas, der angeblich
dem Vater vor dreiundsechzig Jahren bei der Her-
stellung der Büste geholfen hat, soll der Verfasser von
Briefen an die Times gewesen, auch von Bericht-
erstattern der Daily Mail interviewt worden sein; für
die offiziellen Abgesandten des Kaiser-Friedrich-
Museums war er nicht zu sprechen und gab prin-
zipielle Gründe merkwürdiger Art dafür nachträglich
in der Zeitung an. Stil und Qualität der Büste sprechen
endlich so entschieden gegen die Zuweisung an die
englische Schule von 1850, daß die Hypothese der
Lucasschen Autorschaft für den Kunsthistoriker nach
einem genauen Kennen der Berliner Flora und der
englischen Kriegsliteratur erledigt sein dürfte.

Es bleibt aber eine andere Frage, Lucas betreffend,
übrig, nämlich wieviel hat er an der Büste restauriert?
Daß er es hat, ist so gut wie sicher; daß er sie dafür
von Palmerston erhalten, klingt sehr wahrscheinlich;
und hierfür konnte ihm das Bild, ja selbst die schlechte
Kopie von Nutzen sein. Die Photo entstand circa
1860; und außer den Aussagen der Whitburn und
Lucas junior gibt's keinen Hinweis, daß die wächserne
Statue schon lange vorher bei Lucas gewesen. Sie
blieb — nach Palmerstons Tod 1865 -— im Turm
der Winde, und noch mehrere Jahre nach des Malers

Hingang (1883) bestand — nach Tolfrees Aussage —
die Tradition, daß sie nicht Lucas' Eigentum gewesen.
Daß die Büste durch den Tod des eigentlichen Be-
sitzers und Auftraggebers einer Restaurierung — gleich-
sam versehentlich — in Chilworth verblieben sein kann,
hat zuerst Mr. Walter Long, ein Southamptoner Restau-
rator und Vorbesitzer der Flora, erörtert (Times 10. XI.).

Daß Lucas die Flora (leider) restauriert hat, ist
kaum anzuzweifeln, und Thomas Whitburn hat sicher
mit der Angabe recht, daß er den älteren Künstler
an der Büste arbeiten sah. Er hat die Farbspuren,
den Rest der einst vollständigen Bemalung im Gesicht
heruntergenommen, die linke Gesichtshälfte, die lädierter
war als die andere, wahrscheinlich auch den Hals an
der rechten Seite, überarbeitet. Außerdem sind Bruch-
stellen an linker Schulter und linkem Oberarm mit
Gips ausgeflickt, und das Blau am Mantel aufgefrischt
worden. —>• Daneben galten Lucas' Arbeiten der Siche-
rung der alten, hohlen Form. Er stopfte von unten
her, wo die Büste ursprünglich offen, einen weichen
Baumwollstoff in sie hinein, als Widerlager für eine
harte Masse aus stark kolophoniumhaltigem Wachs,
Papierschnitzeln und Ton. Der gefährdete untere Rand
erhielt durch sie wieder ihren festen Halt. Der Bildhauer
Martin Schauß, der in Wachsbildnerei besonders er-
fahren und bei der Öffnung der Büste zugegen war,
folgerte aus dem Loseliegen des Stoffes, der nirgends
mit der Außenschale verbunden ist, daß er nicht gleich-
zeitig mit dem Guß, d. h. der Entstehung der Büste in sie
kam, vielmehr erst nachträglich ihr einverleibt wurde.

Das Gutachten des Herrn Geheimrat Miethe, das
hier im Auszug mitgeteilt ist, sowie Berichte über
die Untersuchungen der Büste durch Röntgenbestrahlung
und die chemische des Wachses (Säure- und Verseifungs-
zahlen in Tabellenform) durch Herrn Professor Dr.
Rathgen, der nachweist, daß durch die Bestimmung
chemischer Konstanten eine Entscheidung über die
Herkunft des Wachses nicht getroffen werden könnte,
sind mit dem englischen Reisebericht des Herrn Dr.
Posse, der auch schon für diese Zeilen benutzt werden
konnte, in den Amtlichen Berichten aus den König-
lichen Kunstsammlungen (Dezember) publiziert.

Das Material, das diese Halbfigur in Lebens-
größe zu einem absoluten Unikum macht, erschwert
die kunsthistorische Einordnung und Bewertung.
Wie der Kunstliebhaber, der einzig Marmorskulpturen
und Bronzen kennt, erst Zeit braucht, bis er die
feineren Qualitätsunterschiede in bemalten Holzskul-
pturen oder Robbia-Glasuren voll begreift, so er-
fordert hier das uns noch fremdere Material ein Um-
denken, ein Abstrahieren von der speziellen Wirkung
des unbemalten alten Wachses. Denn so reizvoll
dieses erscheinen mag mit seinem durchsichtigen
warmen Goldton und seinen matten Lichtern und
Reflexen, die ursprüngliche Wirkung des Cinquecento-
werkes ist anders gewesen. Die vollständige und
wahrscheinlich ganz naturalistische Bemalung ließ die
Berliner Flora den Ton- und Stuckskulpturen vom
Anfang der Hochrenaissance viel ähnlicher als heute
erscheinen. Nur waren alle Formen hier weicher
und zarter als in den anderen Materialen von grö-
 
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