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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 21.1910

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Pauli, Gustav: Die Wachsbüste der Flora im Kaiser-Friedrich-Museum
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https://doi.org/10.11588/diglit.5952#0083
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Die Wachsbüste der Flora

im Kaiser-Friedrich-Museum

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an einigen Stellen, namentlich oberhalb der linken Brust
durch Oipsauftrag ungeschickt ergänzt. Der Rücken ist
vom Nacken abwärts gänzlich verloren gegangen oder
war niemals da und die rechte Schulter ist arg bestoßen,
so daß Schicht um Schicht des Wachses abgeblättert
ist. Es bleiben uns also nur Kopf, Hals, Schultern
und Brust als anscheinend intakt übrig. Aus der Ferne
betrachtet hat dieser Torso unleugbar etwas Gewinnen-
des; die Haltung des Kopfes und das leise Lächeln
wecken auf den ersten Blick die Erinnerung an Leo-
nardo. Besieht man die Arbeit aber eingehender, so
weicht die Bezauberung der Ernüchterung. Das Ge-
sicht ist oberflächlich modelliert, nicht zart, sondern
flau in der Form. Und je weiter wir uns von ihm
entfernen, um so schlimmer wird es. Gewiß, man
kann ja bei der künstlerischen Arbeit alles mögliche
weglassen, dann muß aber das, was übrig bleibt, um
so treffender ausgedrückt sein. Hier sitzen die Teile
jedoch, wie mir scheint, nicht am rechten Ort. Hals,
Schlüsselbein, Schulter, Nacken und vollends die Brust
sind mit einem fatalen Ungefähr modelliert. Die Brüste
scheinen mir geradezu unmöglich zu sein, im Profil
von einem schematischen halbkreisförmigen Umriß,
von vorn gesehen viel zu dicht zusammenstehend —
nicht zusammengedrängt, was man mit der Haltung des
rechten Armes motivieren könnte — sondern unbe-
schwert eng nebeneinander gestellt.

Hiernach erledigt sich die zweite Frage, ob Leo-
nardo?, ganz von selbst. Von der Hand eines aller-
höchsten Meisters, eines unvergleichlichen Beobachters
und Beherrschers der Natur sind diese Formen nimmer-
mehr modelliert. Aber nicht einmal seine Schule
kommt in Betracht, in der sich die Grenzen derQuali-
lät nach unten hin bekanntlich außerordentlich er-
weitern. Denn in dieser Büste finden sich Züge, die
in dem lombardischen und florentinischen frühen Cin-
quecento, das sich mit Leonardo berührt, kein Ana-
logon haben. Die Haarbehandlung mit den kokett
vom Halse herabfallenden Löckchen, namentlich aber
die weitgeöffneten starren Augen mit den scharf um-
schnittenen Lidern wecken ganz andere Reminiszenzen.
Sie erinnern an gewisse weibliche Schönheiten der
späten, römischen Antike, die der Zeit um 1500 wenig
bedeuteten, um so populärer aber um 1800 waren. —
Doch eigentlich plage ich mich hier ohne Not. Denn
nicht die Unechtheit, sondern die Echtheit der Büste
muß bewiesen werden und zwar durch Analogien aus
den Werken Leonardos. Der alte Grundsatz asserenti
incumbit probatio gilt wie überall so auch in der
Kunstgeschichte. Nun haben wir zwar den asserens
in der Person Bodes kennen gelernt. Die probatio
ist er uns aber schuldig geblieben. An ihrer Stelle
sollen wir uns mit der Autorität seines berühmten
Namens begnügen. Dazu sind wir aber um so weniger
bereit, als diese Autorität sich gerade in dem Falle
Leonardos als fragwürdig erwiesen hat. Das neu er-
schienene Leonardobuch von W. v. Seidlitz erinnert
uns eben zur rechten Zeit an eine Reihe von Leo-
nardofragen, in denen Bodes Ansicht im Widerspruch
zu der von den meisten Kennern vertretenen, heute
herrschenden Meinung steht. Es genügt, an die Bilder

der Verkündigung in Paris und Florenz, an die Felsen-
madonna in Paris und London, an das weibliche
Bildnis in der Ambrosiana, das andere der Liechten-
steingalerie, an die angeblichen Skulpturen Leonardos
und — last und Ieast an die Auferstehung Christi
im Kaiser-Friedrich-Museum zu erinnern. Überall
finden wir Bode in der Minorität und glauben bei
seinen Zuschreibungen die Tendenz wahrzunehmen,
durch eine nachsichtigere Beurteilung der künstlerischen
Qualität den engen Kreis der bekannten Werke des
Meisters zu erweitern. Dieser Tendenz verdanken wir
auch die Zuschreibung der Florabüste. Nun mag man
wohl nicht mit Unrecht bisweilen in den Attributions-
fragen ein unfruchtbares Gelehrtengezänke erblicken,
da es wahrhaftig bei Werken mittlerer oder inferiorer
Qualität wenig verschlägt, ob man sie an diesen oder
jenen Namen hängt. Bei den Größen allerersten
Ranges, bei einem Leonardo, einem Giorgione, hört
der Spaß indessen auf. Denn hier handelt es sich
um den köstlichsten Kulturbesitz der Menschheit.
Die Werke solcher Meister können bei aller Ehr-
furcht und Liebe gar nicht sorgfältig genug er-
wogen werden. Man sollte es sich immer ver-
gegenwärtigen, daß jede neue Zuschreibung unsere
Vorstellung des Meisters modifiziert, sie je nachdem
bereichert oder beeinträchtigt. Wenn man Leonardo
für den Maler der Auferstehung und für den Plastiker
der Flora hält, so muß man konsequenterweise ge-
stehen, daß er neben den herrlichsten Meisterwerken
auch recht mediokre Dinge geschaffen habe. Je größer
der Meister, um so strenger der Maßstab, der in
zweifelhaften Fällen an das ihm zugedachte Werk zu
legen ist! Hier vor der Hyperkritik zu warnen, ist
wenig angebracht. Hüten wir uns lieber vor einem
allzu freigebigen Optimismus.

Über die Entstehungsgeschichte der Florabüste
haben wir zwei Versionen kennen gelernt. Die erste
läßt sich folgendermaßen kurz resümieren. Im Jahre
1846 erhielt der damals in London lebende Bildhauer
Richard Cockle Lucas von dem Kunsthändler Buchanan
den Auftrag, nach einem ihm, dem Buchanan, gehören-
den angeblich von Leonardo gemalten Bilde der Flora
eine Wachsbüste zu schaffen. Die Arbeit wurde in
Angriff genommen; ob sie beendet wurde, wissen wir
nicht; jedenfalls aber wurde sie nicht abgeliefert —
aus welchen Gründen bleibe dahingestellt. Etwa 14
Jahre später, um 1860, fertigte Lucas eine Photo-
graphie nach der Büste an, von der mehrere Abzüge
heute noch erhalten sind. Leider hatte der wunder-
liche Künstler bei diesem Anlaß seine Arbeit mit einem
Tüchlein und falschen Blumen aufgeputzt, so daß nur
Kopf, Hals und Hände unverhüllt blieben, wobei die
größte Wahrscheinlichkeit dafür spricht, daß die in-
zwischen abgebrochene linke Hand durch eine hinter
einem Tuch vorgeschobene lebende Menschenhand
ergänzt worden sei. Eben diese Büste soll es sein,
die nunmehr im Kaiser-Friedrich-Museum steht. Durch
photogrammetrische Untersuchung ist wenigstens so
viel erwiesen, daß die erwähnte Photographie aller-
dings die Berliner Büste darstellt. Im übrigen ist
uns die Entstehungsgeschichte von zwei Zeugen über-
 
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