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Die Wachsbüste der Flora
im Kaiser-Friedrich-Museum
154
Arbeit in einem grotesken Aufputz an. Obwohl er
selber die Büste für ein Werk Leonardos hielt, was
er durch die Unterschrift auf seiner Photographie be-
kundete, und obwohl sonst alte Kunstwerke in seinem
Hause geschätzt und gesammelt wurden, erfuhr doch
sein Sohn von dieser höchst merkwürdigen Autorschaft
nichts oder vergaß sie später völlig (I). Auch hat Lord
Palmerston bis zu seinem Tode (1865) sein kostbares
Besitztum nicht zurückgefordert (!). Weder seine Erben
noch der Sohn des Lucas, kümmerten sich später um
die Büste, so daß diese in Vergessenheit geraten konnte
und verschleudert wurde. — Um diese Version zu
glauben, bedarf es einer fanatischen Geistesrichtung:
Credo quia absurdum est.
Wenn nun, wie ich glaube, die Erwerbung der
Florabüste für die Berliner Museen ein Fehlgriff war,
so darf allein hieraus den verantwortlichen Beamten
ein schwerer Vorwurf nicht gemacht werden. Auch
der beste Museumsleiter macht einmal — und nicht
nur einmal — einen Fehlkauf. Berechtigt wären nur
die Vorwürfe, die sich gegen die weitere Behandlung
der Sache richten, gegen das leichtherzige Ignorieren
sehr beachtenswerter Zeugnisse und Tatsachen, gegen
die rasche Verbreitung einer nicht amtlich bestätigten
kaiserlichen Äußerung, gegen die tendenziöse Bear-
beitung der öffentlichen Meinung durch die Presse,
gegen die Bedrohung und Beschimpfung derer, die
nicht an die eben geschilderten Hypothesen glauben
wollten.
* *
*
Nächst diesen zwei Aufsätzen der Herren Prof. Dr.
O. Dehio in Straßburg und Direktor Dr. O. Pauli in Bremen
erhielten wir noch folgenden Brief des Herrn Privatdozenten
Dr. F. Rintelen in Berlin:
Sehr geehrter Herr Kirstein,
ich begreife recht gut, daß Sie der in Berlin unter
den Kunstgelehrten fast einhelligen Überzeugung von
der Güte und Echtheit der Florabüste in Ihrer Zeit-
schrift Rechnung tragen, aber ich gebe mich doch
der Hoffnung hin, daß Sie als ein Freund der Wissen-
schaft dem folgenden sachlichen Beitrag zur Auf-
klärung der verwickelten Frage Raum gönnen werden.
Die in der vorigen Nummer veröffentlichte Zeich-
nung zweier Hände von Lionardo hat keinen Zusammen-
hang mit der Büste. Die Haltung der beiden Hände
stimmt nicht mit der überein, die nach den Armstumpfen
der Büste bei dieser zu ergänzen ist. Man würde das
sogleich bemerkt haben, wenn nicht durch die in
der »Woche« dem Aufsatz Bodes beigefügte falsche
Rekonstruktion die Phantasie irregeführt worden wäre.
Diese Rekonstruktion gab den linken Arm so wieder,
als ginge der erhaltene Teil nur bis zum Ellenbogen;
sie läßt ihn eine Bewegung vorn über den Leib hin
machen, ohne Rücksicht darauf, daß von dem Unter-
arm noch ein großes Stück erhalten ist, an dem man
deutlich sehen kann, daß der zu ergänzende Teil des
Armes nicht über dem Leib gelegen hat, sondern gerade-
ausgerichtet gewesen ist; nur die Hand kann eine ent-
schiedene Wendung zum Leibe hin genommen haben.
Noch mehr: Die Rekonstruktion Bodes übersieht auch,
daß der Ellenbogen hinten fest aufgestützt ist und
daß der Unterarm klar aufwärts gerichtet ist, so daß
bei einer sorgfältigen Ergänzung die beiden Hände
in sehr seltsamer Weise einander — rhythmisch ge-
sprochen — ins Gehege kommen würden.
Hier liegt die wichtigste Differenz zwischen der
Büste und der Zeichnung. Diese gibt dem linken
Unterarm eine starke Neigung abwärts und zwar geht
der Arm ganz ungezwungen so tief nach unten,
daß die zu ergänzende Figur bis weit unter den
Nabel dargestellt gewesen sein muß. In diesem Um-
stand nun sehe ich einen Hinweis darauf, daß sich
die Zeichnung nur auf ein Bild beziehen kann, denn
einesteils wäre es in einem Werke der Skulptur ganz
unerträglich, wenn die Figur bei der in der Zeich-
nung gegebenen Händestellung gerade über den
Beinen abgeschnitten wäre, und anderenteils besitzen
wir aus der Lionardoschule Bilder nackter Frauen,
wie die »Abundantia« des Gianpietrino, wo die Hand-
haltungen nach dem gleichen rhythmischen Gedanken
angelegt sind, wie in der Zeichnung Lionardos, so
daß wir auch daraus vermuten dürfen, daß ein Bild
dieser Art von Lionardo existiert hat. Das ist nicht
ohne Bedeutung: aus diesem verlorenen Bilde, das
eine Flora dargestellt haben mag, sind dann auch
Werke wie die jetzt so ungerecht herabgesetzte Flora
in Basildon Park herzuleiten, und nicht aus der Berliner
Flora, wie man geglaubt hat, andeuten zu dürfen.
Rintelen.
* *
*
Schließlich kommt zum Flora-Streite eine neue
Nachricht aus Southampton. Der dort seit sechs-
undfünfzig Jahren ansässige Mr. Edward Tolfree ver-
öffentlicht in der »Times« vom 14. dieses Monats ein
Schreiben. Darin vertritt er mit aller Entschiedenheit
seine frühere Behauptung, daß Lord Palmerston die
jetzige Berliner Wachsbüste zur Restauration an Lucas
gegeben habe, und daß er aus dem eigenen Munde
des Auktionators wisse, wie entrüstet Mr. Lucas (der
Sohn) war, als er hörte, die nicht sein Eigentum
bildende Büste sei später mit anderen Gegenständen
verauktioniert worden, und daß er diesen Umstand
dem Testamentsvollstrecker niemals vergeben habe!
Ferner teilt Mr. Tolfree mit, daß, als er Mr. Cooksey
einen Brief über die »Palmerston-Theorie« zeigte,
dieser ausrief: »Sie spielen nur in die Hand der
Deutschen, wenn Sie diesen Brief veröffentlichen!«
Wissenschaftliche Wahrheit kann nur durch Spruch
und Widerspruch ermittelt werden. In der vorigen
Nummer hatten Dr. Frida Schottmüller und R. Spies
über die Florabüste gesprochen; jetzt haben sich drei
anders Denkende zum Wort gemeldet. Da die Re-
daktion sich unparteiisch hält, gibt sie diesen Dar-
legungen ebenso Raum. — Der Zeitungsstreit hat
hoffentlich ausgelärmt, die ruhige Diskussion der Ge-
lehrten kann also beginnen. o./c.
Die Wachsbüste der Flora
im Kaiser-Friedrich-Museum
154
Arbeit in einem grotesken Aufputz an. Obwohl er
selber die Büste für ein Werk Leonardos hielt, was
er durch die Unterschrift auf seiner Photographie be-
kundete, und obwohl sonst alte Kunstwerke in seinem
Hause geschätzt und gesammelt wurden, erfuhr doch
sein Sohn von dieser höchst merkwürdigen Autorschaft
nichts oder vergaß sie später völlig (I). Auch hat Lord
Palmerston bis zu seinem Tode (1865) sein kostbares
Besitztum nicht zurückgefordert (!). Weder seine Erben
noch der Sohn des Lucas, kümmerten sich später um
die Büste, so daß diese in Vergessenheit geraten konnte
und verschleudert wurde. — Um diese Version zu
glauben, bedarf es einer fanatischen Geistesrichtung:
Credo quia absurdum est.
Wenn nun, wie ich glaube, die Erwerbung der
Florabüste für die Berliner Museen ein Fehlgriff war,
so darf allein hieraus den verantwortlichen Beamten
ein schwerer Vorwurf nicht gemacht werden. Auch
der beste Museumsleiter macht einmal — und nicht
nur einmal — einen Fehlkauf. Berechtigt wären nur
die Vorwürfe, die sich gegen die weitere Behandlung
der Sache richten, gegen das leichtherzige Ignorieren
sehr beachtenswerter Zeugnisse und Tatsachen, gegen
die rasche Verbreitung einer nicht amtlich bestätigten
kaiserlichen Äußerung, gegen die tendenziöse Bear-
beitung der öffentlichen Meinung durch die Presse,
gegen die Bedrohung und Beschimpfung derer, die
nicht an die eben geschilderten Hypothesen glauben
wollten.
* *
*
Nächst diesen zwei Aufsätzen der Herren Prof. Dr.
O. Dehio in Straßburg und Direktor Dr. O. Pauli in Bremen
erhielten wir noch folgenden Brief des Herrn Privatdozenten
Dr. F. Rintelen in Berlin:
Sehr geehrter Herr Kirstein,
ich begreife recht gut, daß Sie der in Berlin unter
den Kunstgelehrten fast einhelligen Überzeugung von
der Güte und Echtheit der Florabüste in Ihrer Zeit-
schrift Rechnung tragen, aber ich gebe mich doch
der Hoffnung hin, daß Sie als ein Freund der Wissen-
schaft dem folgenden sachlichen Beitrag zur Auf-
klärung der verwickelten Frage Raum gönnen werden.
Die in der vorigen Nummer veröffentlichte Zeich-
nung zweier Hände von Lionardo hat keinen Zusammen-
hang mit der Büste. Die Haltung der beiden Hände
stimmt nicht mit der überein, die nach den Armstumpfen
der Büste bei dieser zu ergänzen ist. Man würde das
sogleich bemerkt haben, wenn nicht durch die in
der »Woche« dem Aufsatz Bodes beigefügte falsche
Rekonstruktion die Phantasie irregeführt worden wäre.
Diese Rekonstruktion gab den linken Arm so wieder,
als ginge der erhaltene Teil nur bis zum Ellenbogen;
sie läßt ihn eine Bewegung vorn über den Leib hin
machen, ohne Rücksicht darauf, daß von dem Unter-
arm noch ein großes Stück erhalten ist, an dem man
deutlich sehen kann, daß der zu ergänzende Teil des
Armes nicht über dem Leib gelegen hat, sondern gerade-
ausgerichtet gewesen ist; nur die Hand kann eine ent-
schiedene Wendung zum Leibe hin genommen haben.
Noch mehr: Die Rekonstruktion Bodes übersieht auch,
daß der Ellenbogen hinten fest aufgestützt ist und
daß der Unterarm klar aufwärts gerichtet ist, so daß
bei einer sorgfältigen Ergänzung die beiden Hände
in sehr seltsamer Weise einander — rhythmisch ge-
sprochen — ins Gehege kommen würden.
Hier liegt die wichtigste Differenz zwischen der
Büste und der Zeichnung. Diese gibt dem linken
Unterarm eine starke Neigung abwärts und zwar geht
der Arm ganz ungezwungen so tief nach unten,
daß die zu ergänzende Figur bis weit unter den
Nabel dargestellt gewesen sein muß. In diesem Um-
stand nun sehe ich einen Hinweis darauf, daß sich
die Zeichnung nur auf ein Bild beziehen kann, denn
einesteils wäre es in einem Werke der Skulptur ganz
unerträglich, wenn die Figur bei der in der Zeich-
nung gegebenen Händestellung gerade über den
Beinen abgeschnitten wäre, und anderenteils besitzen
wir aus der Lionardoschule Bilder nackter Frauen,
wie die »Abundantia« des Gianpietrino, wo die Hand-
haltungen nach dem gleichen rhythmischen Gedanken
angelegt sind, wie in der Zeichnung Lionardos, so
daß wir auch daraus vermuten dürfen, daß ein Bild
dieser Art von Lionardo existiert hat. Das ist nicht
ohne Bedeutung: aus diesem verlorenen Bilde, das
eine Flora dargestellt haben mag, sind dann auch
Werke wie die jetzt so ungerecht herabgesetzte Flora
in Basildon Park herzuleiten, und nicht aus der Berliner
Flora, wie man geglaubt hat, andeuten zu dürfen.
Rintelen.
* *
*
Schließlich kommt zum Flora-Streite eine neue
Nachricht aus Southampton. Der dort seit sechs-
undfünfzig Jahren ansässige Mr. Edward Tolfree ver-
öffentlicht in der »Times« vom 14. dieses Monats ein
Schreiben. Darin vertritt er mit aller Entschiedenheit
seine frühere Behauptung, daß Lord Palmerston die
jetzige Berliner Wachsbüste zur Restauration an Lucas
gegeben habe, und daß er aus dem eigenen Munde
des Auktionators wisse, wie entrüstet Mr. Lucas (der
Sohn) war, als er hörte, die nicht sein Eigentum
bildende Büste sei später mit anderen Gegenständen
verauktioniert worden, und daß er diesen Umstand
dem Testamentsvollstrecker niemals vergeben habe!
Ferner teilt Mr. Tolfree mit, daß, als er Mr. Cooksey
einen Brief über die »Palmerston-Theorie« zeigte,
dieser ausrief: »Sie spielen nur in die Hand der
Deutschen, wenn Sie diesen Brief veröffentlichen!«
Wissenschaftliche Wahrheit kann nur durch Spruch
und Widerspruch ermittelt werden. In der vorigen
Nummer hatten Dr. Frida Schottmüller und R. Spies
über die Florabüste gesprochen; jetzt haben sich drei
anders Denkende zum Wort gemeldet. Da die Re-
daktion sich unparteiisch hält, gibt sie diesen Dar-
legungen ebenso Raum. — Der Zeitungsstreit hat
hoffentlich ausgelärmt, die ruhige Diskussion der Ge-
lehrten kann also beginnen. o./c.