Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Metadaten

Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 22.1911

DOI Artikel:
Lübbecke, Friedrich: Eine rheinische Pietà
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.5953#0309

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
KUNSTCHRONIK

WOCHENSCHRIFT FÜR KUNST UND KUNSTGEWERBE

Verlag von E. A. SEEMANN in Leipzig, Querstraße 13
Neue Folge. XXII. Jahrgang 1910/1911 Nr. 38. 8. September 1911.

Die Kunstchronik erscheint als Beiblatt zur »Zeitschrift für bildende Kunst« monatlich dreimal. Der Jahrgang kostet 8 Mark und umfaßt 40 Nummern.
Die Abonnenten der »Zeitschrift für bildende Kunst« erhalten die Kunstchronik kostenfrei. — Für Zeichnungen, Manuskripte usw., die unverlangt
eingesandt werden, leisten Redaktion und Verlagshandlung keine Oewähr. Alle Briefschaften und Sendungen sind zu richten an E.A.Seemann,
Leipzig, Querstraße 13. Anzeigen 30 Pi. für die dreispaltige Petitzeile, nehmen außer der Verlagshandlung die Annoncenexpeditionen an.

EINE RHEINISCHE PI ETA
Von Friedr. Lübbecke

Vor kurzem erwarb die städtische Galerie zu
Frankfurt, die bekanntlich in direktorialer Personalunion
mit dem Städelschen Institut durch die Sammlung
von moderner Kunst und Bildnerei aller Zeiten die
berühmte Stiftung Städels aufs Glücklichste ergänzt,
eine Pietä (Abb. 1 und 2). Sie verdient es, daß an
dieser Stelle einiges über sie gesagt werde.

Zunächst das Tatsächliche, soweit es aus den um-
stehenen Photographien sich nicht von selbst ergibt.
Die Gruppe ist 87 cm hoch und 53 cm an der
Basis breit, das Material bildet Kirschholz, das aus
vier Stücken" zusammengesetzt wurde: einem fast
rechtwinkligen^Mittelstück, darunter einem Sockel, der
ungefähr dem unten sichtbar werdenden Felsstück
entspricht, und zwei seitlichen schmalen Blöcken, die
bis zur Höhe der Bank reichen. Trotzdem auf der roh
gelassenen Hinterseite diese Teilstücke durch fingerbreite
Spalten sich trennen, hat man bei dem Blick von
vorne durchaus den Eindruck, als sei das Stück aus
einem Block geschnitzt. Trotz mehrerer Wurmstellen
an der Vorderseite und breiteren an der Hinterseite
macht das Stück — rein vom Materialstandpunkte
beurteilt — einen überraschend guten Eindruck. Diese
gute Erhaltung darf man wohl der sorgsamen Über-
klebung aller Vorderteile der Gruppe mit einer sehr
feinen, dichten Leinwand zuschreiben. Über ihr lagert
ein Kreidegrund von zäher Härte, dessen starker Leim-
zusatz jedenfalls das splittrige Abblättern der Farb-
schicht verhinderte, wie man es so oft — besonders
bei Lindenholzplastiken beklagen muß. Die heutige
Fassung ist die alte, mit viel Mühe unter der späteren
groben Übermalung herausgekratzte Polychromierung.
Sie bildet in ihren matten Tönen einen besonderen
Reiz der Gruppe. Ursprünglich wird sie recht leuchtend
gewesen sein. Der Felsen, auf dem die Mutter sitzt,
war grün bemalt. Da das Gewand ihn nicht völlig
bedeckt, so umrahmte gleichsam ein grüner Streifen
je rechts und links den Aufbau der Gruppe bis zur
Sitzhöhe. Golden war das Gewand; nur an den
wenigen umgeschlagenen Stellen des Mantels schimmert
noch ein altes Silber. Weißgelblich wie Elfenbein
waren schließlich das Gesicht der Mutter, die beiden
Totenschädel rechts und links am Sockel und der
Körper Christi. Dazu im farbig raffinierten Kontrast

das Krapprot des Blutes, das in traubenförmigen
Büscheln von den Wundrändern hängt.

So weit der Befund für den Katalog! Wer plötzlich
vor das Werk geführt wird, dürfte kaum nach diesen
nützlichen Angaben verlangen. Er steht vor einem
Kunstwerk, das selbst Leute erschüttert, die sonst
kein Verhältnis zur mittelalterlichen Plastik zu gewinnen
vermochten. Vesperbild nannte man früher — heute
wohl nur noch auf dem Lande — diese Darstellungen
der Mutter, die ihren toten Sohn auf den Knien hält.
Das gewohnte Bild tritt in die Erinnerung: Die ästhetisch
meist unbefriedigende Querlegung des starren Leichnams
zu der in Frontalansicht sitzenden Mutter. Hier die
Mutter im Dreiviertelprofil, die ihren Sohn fast wie
ein erwachsenes Kind nach alter Gewohnheit auf den
Schoß nahm. Sicherlich proportional vom Standpunkt
des einfachen Naturbeobachters unmöglich: Denn der
Leichnam ist im Verhältnis zu dem Körper der Mutter
zu klein gebildet. Das stört hier gar nicht. Dieses
Kunstwerk zwingt neben dem tiefen Gefühl, das aus
ihm spricht, allein schon durch seine formale Kraft.

Steil steigt die Linie links über den Sockel, den
Rücken der Mutter zum leicht geneigten Haupte empor,
legt sich weich über die beiden Häupter, ihren Zwischen-
raum unmerklich überbrückend, fällt wiederum über
den hängenden Arm des Leichnams zum Felsblock
in schroffem Sturz. Anfang und Ende dieser Linie
bilden die beiden Schädel, die wie zwei Eckhäupter
eines Pisanokapitells erscheinen. Diese von außen
eben umschriebene Fläche wird von zwei Diagonalen
durchschnitten: dem Körper Christi und dem über
den Arm und das Knie der Mutter gleitenden Falten-
zuge, beide in weicher S-Linie über dem Schöße
Christi sich kreuzend. Das Ganze ist gewiß mehr
eine Reliefdarstellung als eine runde Plastik. Dennoch
entbehrt die Gruppe keineswegs der räumlichen Tiefe.
Man ist bei näherem Beschauen erstaunt, wie dünn
in Wirklichkeit der Block ist. Dieser Raumeindruck
wird durch die von hinten nach vorn strebenden
Teile, insbesondere durch den ganz nach vorn ge-
schobenen linken Arm des Christus-Körpers erreicht.
Zudem vermittelt sein Achsenreichtum ein erhöhtes
Beweglichkeitsgefühl.

Keineswegs erschöpft sich mit solchen formal-ästhe-
tischen Werten der Gehalt des Werkes. Wir sind Zeugen
der tiefsten Tragödie. Dennoch liegt etwas Beruhigen-
des in ihr, etwas Abendliches. Keine laute Gebärde, nur
 
Annotationen