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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 26.1915

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Tietze, Hans: Ernst Heidrich: ein Gedenkwort
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https://doi.org/10.11588/diglit.6190#0096

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173

Ernst Heidrich

174

gerissen, endlich von einer dem Detail übermäßig
zugewandten Forschung zumeist auf lokale Spielarten
hin untersucht und bereitgestellt, bietet die reiche
Bildproduktion Deutschlands im 15. und zu Beginn
des 16. Jahrhunderts ein chaotisches Schauspiel. Was
in dieser Wirrnis allein sicheren Halt gewährt, sind
die geistigen und sozialen Strömungen, die auch in
der Kunst zur Sprache gelangen; sie hatte Heidrich
sich und anderen lebendig gemacht, sie gaben ihm
den Schlüssel zum verschlossenen bunten Garten der
altdeutschen Malerei.

Die stilkritische und die kulturgeschichtliche Inter-
pretationsweise, die sonst in scharfem Gegensatz zu-
einander gestellt zu werden pflegen, schienen Heid-
rich demnach keineswegs unvereinbar, sondern ihre
Anwendung sollte sich den Bedingungen der je-
weiligen Aufgabe anpassen. Ein solches Zusammen-
fassen beider Methoden ist keineswegs ein Kompromiß

— niemandem lag Kompromißwesen von Natur aus
ferner als Heidrich —, sondern entspricht dem Cha-
rakter des kunstgeschichtlichen Stoffes wirklich am
besten. Das der Kunstgeschichte Gegebene sind ja

— wie bei aller Geschichte — die Tatsachen, präzis
ausgedrückt die Kunstwerke; daß ihre Aufeinander-
folge keine willkürliche und zufällige ist, wird allge-
mein zugegeben, denn alle Versuche des Datierens,
Bestimmens, Einordnens aller Art würden ohne diese
Voraussetzung hinfällig. Strittig kann nur sein, wo-
durch in dieser zusammenhängenden Kette künst-
lerischer Formen die Veränderungen sich vollziehen;
ob neue Formen aus den vorhandenen den inneren
eigenen Gesetzen gehorchend entsprießen oder ob
äußere Kräfte jene Wandlungen verursachen. Da
zweifellos alles künstlerische Geschehen von seinen
formalen Grundlagen abhängt, also jede Form die
Weiterbildung, Variierung, Veränderung der voran-
gegangenen ist und andererseits jedes Kunstwerk ebenso
sicher die allgemeine geistige Disposition seiner Ent-
stehungszeit aussprechen muß, so steht jede neue
Form, also jeder Punkt der kunsthistorischen Ent-
wicklungsreihe unter einer doppelten Kausalität; neue
Kunst wird, weil die vorangegangenen Entwicklungs-
stufen sie hervortrieben, neue Kunst wird, weil ver-
änderte geistige und kulturelle Bedürfnisse sie heischten.
In jedem Punkte sind die inneren und die äußeren
Gründe wirksam, ohne daß es in jedem einzelnen Fall
möglich sein muß, beide Kausalitätsreihen zu ver-
folgen. Es wird sich nicht immer erweisen lassen,
warum der künstlerische Trieb, der die früheren For-
men hervorgebracht hatte, nun gerade bestimmte neue
erzeugen müsse, und es wird nicht immer gezeigt
werden können, warum einer kulturellen Wandlung
gerade diese und keine andere Formveränderung ent-
spreche; sicher aber ist, daß in jedem Augenblick
beide Arten von Kräften wirksam sein müssen und
daß zwischen ihnen eine unsichtbare Verkettung be-
steht, denn die Tatsachen, die jene begründen sollen,
sind ja das im Vorhinein Gegebene und ihr Zu-
sammenhang ist allgemein zugestanden. Solange dieser
Zusammenhang, also die künstlerische Entwicklung,
dem Darstellenden nicht entgleitet, sondern in jedem

Augenblick der wirkliche Gegenstand der Unter-
suchung bleibt, liegt kein Grund vor, die stilkritisch-
evolutionistische Methode nicht durch die kulturge-
schichtliche zu ergänzen. Im Gegenteil, sie wird da-
durch dem ganzen Reichtum ihres Gegenstandes erst
gewachsen. In rigoroser Ausschließlichkeit ange-
wendet, führt sie leicht dazu, den lebensvollen Stoff
auf ein dürres Formenexperiment zu reduzieren, nur
Wachsen, Wandeln und Vergehen abstrakter Formen
zu sehen, wo es sich um nicht weniger handelt als
um das beste Herzblut des Einzelkünstlers, um geistige
Not und Lust seines Volkes und seiner Zeit. Versteht
es einer, uns zu diesen dunkeln Schichten zu führen,
in die die Wurzeln aller Kunst hinabtreiben, so hat
er uns unendlich mehr gegeben, als wer sich im
exakter bearbeitbaren Kreis formalistischer Interpretation
hält; er erklärt uns das Kunstwerk nicht nur als Form,
sondern zugleich auch als geistiges Ausdrucksmittel.
So aufgefaßt steht eine kulturgeschichtliche Methode
überhaupt nicht im Gegensatz zur evolutionistischen
Erklärung, sondern erweitert diese zu einem völligen
und allseitigen Ergründen des Kunstwerks in der
Bedingtheit seiner historischen Stellung.

Den Beweis für die Fruchtbarkeit dieser nach
beiden Wurzeln der Kunst schürfenden Arbeitsweise
erbringt der dritte Band der Gesamtdarstellungen
Heidrichs: Die vlämische Malerei (Jena 1913). Über-
wog in den beiden früheren Bänden die eine oder
die andere Methode, so hatten sie einander hier völlig
durchflochten und durchwachsen. So entstand ein Werk,
das in ausgeglichener Meisterschaft seine beiden Vor-
läufer gewaltig übertrifft; der altdeutschen, der alt-
niederländischen Malerei hatten Heidrichs warmfühlen-
des Miterleben, sein kristallklarer Intellekt ihr Wesen
abgehorcht, nun entwirrte ein großer Historiker mit
leichter Hand die feine vielverästelte Verflechtung
kunstgeschichtlicher Wandlungen, die ihm persönlich
fernab lagen. Wie Heidrich den Manierismus der
niederländischen Romanisten aus der Formbewegung
erklärt, die von Michelangelo ausgegangen war und
gleichzeitig seine hohe Bedeutung innerhalb der all-
gemeinen Zeitkultur deutlich macht, ist eine bleibende
Bereicherung der Kunstgeschichte, die endgültige
Lösung eines Rätsels, das manchen Forscher gequält
und verwirrt hat. Und ebenso ist, wie er den großen
und glänzenden Genius des Rubens erfaßt, wie er
dem nationalen und dem klassizistischen Element in
ihm, den Anteil am Barock und den Gegensatz zu
diesem gerecht wird, wie er in sein katholisches
Wesen eindringt und ein Stück Menschengeschichte
aus dem letzten Stilwandel herausliest, dieser ganze
groß und neu gesehene Rubens über die jugendliche
Interpretation Dürers bedeutend hinausgeschritten: hier
hatte ein heißer Eifer in liebevoller Intuition grund-
legende Charakterzüge des verehrten Helden — als
den geistigen Patron Heidrichs möchte man Dürer
empfinden — aufgespürt, nun entwarf ein reifer Meister
der Kunstgeschichte ein unübertrefflich abgerundetes
Bild eines der Fürsten der Kunst.

Der vierte und letzte Band dieser Folge sollte
der holländischen Malerei des siebzehnten Jahrhunderts
 
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