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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 27.1916

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Der neue Tizian in der Wiener Akademischen Galerie im Lichte der Akademischen Galeriekommission
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KUNSTCHRONIK

Neue Folge. XXVII. Jahrgang 1915/1916 Nr. 4. 22. Oktober 1915

Die Kunstchronik und der Kunstmarkt erscheinen am Freitage jeder Woche (im Juli und August nach Bedarf) und kosten halbjährlich 6 Mark.
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DER NEUE TIZIAN IN DER WIENER
AKADEMISCHEN GALERIE IM LICHTE
DER AKADEMISCHEN GALERIEKOMMISSION

Auf meine kurze Notiz über Tizians »Tarquinius
und Lukrezia« in der Wiener Akademie erwidert ein
A. F. S. zeichnender Künstler Wiens, wohl im Namen
der akademischen Galeriekommission, in einem sehr
ausführlichen Artikel der N. Fr. Presse vom 14. Oktober.
Der Verfasser wendet sich gegen die Deutung, die
meiner kurzen Mitteilung über den neu aufgestellten
Tizian gegeben werden könne, daß »niemand an der
Wiener Akademie von dem Werte und der Zugehörig-
keit dieses Bildes eine Ahnung gehabt habe, und daß
es um die Sach- und Fachkenntnis der mit der Be-
aufsichtigung besagter Galerie betrauten Persönlichkeiten
recht übel bestellt sei.« »Dies ist keineswegs der Fall«,
versichert der Verfasser. Seine Begründung enthält
so viel Merkwürdiges, daß ich hier wenigstens eine
Blütenlese seiner bemerkenswertesten Aussprüche zu-
sammenstellen möchte.

Wir erfahren, daß »der verstorbene Kustos der
„Galerie, Gerisch, das Bild vor 4 Jahren um 4000 K
„in einer Auktion des Kunsthändlers Pisko erworben
„hat. Gerisch bezeichnete das Bild sofort als Tizian,
„einige Professoren der Akademie traten dieser
„Ansicht bei und das Bild wurde — auf einer
„Staffelei zur allgemeinen Besichtigung aufgestellt; so
„blieb es durch mehr als ein Jahr allen Besuchern
„der Sammlung zugänglich. Warum es dann ins
„Depot gewandert ist, wird einem jeden Kunst-
verständigen klar, sobald er es in Augenschein
„genommen hat: es ist ein bloß untermaltes,
„gänzlich unfertiges Werk, das in einigen kleinen
„nebensächlichen Partien die Hand des Meisters
„erkennen läßt" (wie denkt sich der Verfasser wohl
die Zusammenarbeit von Meister und Schüler gleich
bei der Untermalung?), „sonst aber eine so ausnehmend
„schwache Arbeit, daß man wahrhaftig damit keinen
„Staat machen kann, ja daß man sich erstaunt fragt, wieder
„Schöpfer der Assunta oder der Madonna des Hauses
„Pesaro überhaupt ähnliches zu produzieren vermochte.
„Bedenkt man, daß die Galerie der Akademie nur über
„sehr unzureichende Räume verfügt, so versteht man,
„warum dieses Bild, nachdem es ein Jahr lang ausgestellt
„ward und bei niemandem sonderlichen Anteil ge-
bunden hatte, vorläufig wieder ins Magazin geschafft
„wurde.« — Dann folgt ein langer Exkurs über Tizian
und seine Kunst, der in das kunsthistorische Wissen
des Verfassers zwar einen wertvollen Einblick tun läßt,
aber hier wegen Platzmangels (auch der »Kunst-
chronik« geht es wie der Akademie-Galerie!) nicht
wiedergegeben werden kann. Verfasser kommt endlich

wieder auf das Bild zurück, in dem er nach der Be-
zeichnung des alten Auktionskatalogs »Othello und
Desdemona« sehen will. Nachdem er zuerst das Bild
als »bloße Untermalung« bezeichnet und uns darüber
belehrt hat, daß die venezianische Schule grau oder
braun sorgfältig untermalte, erklärte er »die koloristi-
sche Wirkung für stark und interessant«, weist
dann aber »so peinliche, mehr als schülerhafte Ver-
zeichnungen nach, daß man auf die Vermutung
kommt, der Meister habe diesen mehr als flüchtigen
Entwurf stehen gelassen, weil er bei der Ausführung
die Mängel der Zeichnung ohne radikalste Änderungen
nicht mehr zu beseitigen wußte.« (Armer vertroddelter
alter Tizian!) — Dann fährt Herr A.F.S. fort: »Meiner
„unmaßgeblichen Meinung nach handelt es sich also
„um einen Entwurf, der von Haus aus in vielen
„Punkten so verunglückt war, daß der Meister ihn
„nur zum Probieren und Experimentieren verwendete.
„In diesem Sinne ist das Werk denn auch sehr lehr-
reich. Es zeigt uns den leidenschaftlich-dramatischen (?),
„impressionistischen Altersstil Tizians, seine interessante,
„willkürliche, allem Akademischen widerstrebende
„Pinselführung und Farbenbehandlung; es zeigt sich
„aber auch, bis zu welchem unfaßlichen Grade
„ein Genie ersten Ranges sich ,verhauen'
„kann, wenn es seine Probleme ganz einseitig faßt.
„Es ist hier der Punkt, wo sich die Extreme be-
rühren und wo das Genie Hand in Hand mit
„dem Dilettantismus erscheint; dieselbe Mischung
„zu transszendentaler Virtuosität und schülerhafter
„Unzulänglichkeit, die wir auch manchmal beim
„Tintoretto finden, und die in den meisten Wer-
„ken des Greco, Goya, aber auch in vielen des
„späteren Delacroix zur festen Manier erstarrt, manch-
mal den Impressionisten zum Vorbild und als Ent-
schuldigung gedient hat, den modernen Kenner ent-
zückt und den Kunstwert der genannten Bilder
„oft bis zum Nullpunkt, ja noch weiter herab-
„drückt. Mit seinem Ausspruch von den häßlichen
„Malereien, welche durch die Manier Tizians verursacht
„worden, hat Vasari ein geradezu prophetisches Gemüt
„bekundet und wohl keine Ahnung gehabt, wie viele
„Nägel damit noch auf die Köpfe getroffen werden
„sollten." Der Verfasser scheint den zeitgemäßen Vor-
schlag machen zu wollen, auch Tizian noch zu »ver-
nageln«! — Dann bringt Herr A. F. S., wohl um sich
als stellvertretenden oder gar designierten Kustos zu
legitimieren, noch eine Übersicht über die Meister-
werke der »Galerie am Schillerplatz«, offenbar weil
er annimmt, daß sie in ihrer jetzigen Aufstellung und
Vernachlässigung dem Wiener Publikum bisher ent-
gangen sei. Zum Schluß resümiert er seine Ansicht
über den »neuen Tizian« in folgende Worte: »Der
 
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