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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 29.1918

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Der Geist der Gotik
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Winckelmann und der Klassizismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.6188#0085

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149

Der Geist der Gotik —

Winckelmann und der Klassizismus

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die den Blick hemmungslos in die Höhe zwingen,
bringt Deutschland, mit Hilfe der technischen Errungen-
schaften Frankreichs, die geschlossenen, wohlräumigen
Gruppenbauten des Übergangsstiles hervor; und selbst
die ersten gotischen Kirchen Deutschlands haben mit
französischer Gotik im wesentlichen nicht viel gemein.
Die Liebfrauenkirche in Trier ist ein Zentralbau; der
Chor von S. Elisabeth in Marburg ahmt die Zentral-
anlagen nach, die sich in der Lombardei an S. Lorenzo
in Mailand, in Köln an S. Marien im Kapitol an-
schließen; das Straßburger Münster endlich bildet,
entgegen dem französischen Ideal, seinen Raum nach
dem klassischen System des gleichseitigen Dreiecks,
genau wie unter den italienischen gotischen Kirchen
der Mailänder Dom und S. Petronio in Bologna (vgl.
Dehio, Ein Proportionsgesetz der antiken Baukunst,
1895, S. 20 ff.). Wie sehr sich auch die spätere
Gotik Deutschlands von den ursprünglichen Tendenzen
des Stiles entfernt, beweist am besten Schmarsows
bekanntes Mißverständnis bezüglich der Hallenkirchen.

Ist so einerseits die Übernahme des Begriffes gotisch
auf Epochen, die zu der Gotik keine unmittelbaren
formalen Beziehungen haben, anderseits die Absicht,
dem Süden seine tatsächliche Gotik abzuerkennen,
anfechtbar, so ist es vor allem, wie schon oben an-
gedeutet wurde, das Bemühen, die Begriffe gotisch
und abstrakt - bewegt einander gleichzusetzen. Ge-
wiß, Neigung zur Abstraktion und zur Bewegung
sind Merkmale eines Teiles der Gotik, aber durchaus
keine allgemein und unbedingt gültigen Kennzeichen.
Was Malerei und Bildnerkunst betrifft, so darf man
behaupten, daß die der Gotik innewohnende Dynamik
sie geradezu aus der Gebundenheit an die Wand, zu
der sie im frühen Mittelalter genötigt waren, loslöst.
Freilich, Worringer pariert diesen Einwand damit,
daß er den gotischen Realismus als unkünstlerisch aus-
scheidet. »Dieser Realismus, heißt es in Abstraktion
und Einführung, Seite 127, steht jenseits des absoluten
Kunstwollens, das immer nur auf den ästhetischen
Elementargefühlen basiert«. Indes läßt sich nicht in
Abrede stellen, daß die spekulative Methode, indem
sie das für ihre Beweisführung Passende anerkennt,
das nicht Passende verleugnet, nicht eben an Über-
zeugungskraft gewinnt. Das Wesen der Gotik ist
eben mit so wenig Formeln nicht erschöpft.

Was Worringer und Schettler erstreben, ist durch-
aus anerkennenswert. Nur hätten sie die Gotik nicht
in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen rücken dürfen.
Denn Gotik — möge immer das Wort ursprünglich
zur Kennzeichnung nordischer Art im allgemeinen
verwendet worden sein — ist für den heutigen deutschen
Sprachgebrauch der Stil der Kunst der europäischen
Völker vom Ausklingen der letzten antiken Tradition
im 12. und 13. bis zu ihrer Wiedererweckung im
15. und 16. Jahrhundert. Man kann, wenn auch kaum
die Form probleme, so doch allenfalls den Geist eines
Teiles dieser Epoche in anderen Zeiten wiederfinden.
Aber warum dann diesen Geist nicht beim rechten
Namen nennen? Nicht um den Gegensatz klas-
sisch und gotisch, sondern um die Gegen-
sätze organisch und abstrakt, statisch und

dynamisch handelt es sich. Mit diesen Begriffs-
gegensätzen, nicht mit dem Zeitbegriff Gotik, gewinnt
man sachliche Maßstäbe. Allerdings muß man sich
davor hüten, irgend eine Zeit oder ein Volk auf einen
der beiden Begriffe festzulegen. BAUM.

WINCKELMANN UND DER KLASSIZISMUS

Zu Winckelmanns 200. Gebutrstage sprach Ge-
heimrat Max Gg. Zimmermann-Berlin in Winckel-
manns Vaterstadt Stendal, in der Technischen Hoch-
schule und der Kunstgeschichtlichen Gesellschaft zu
Berlin. Wir fassen im folgenden die Hauptgedanken
der drei Vorträge, sie untereinander verbindend, kurz
zusammen:

Welche Bedeutung Winckelmann hat, erhellt aus
der Jahrhundert langen Nachwirkung seines Auftretens,
ja seinem unmittelbaren Nachleben bis auf den heutigon
Tag, wie die jährlichen Feiern seines Geburtstages,
außer in seiner Vaterstadt Stendal, in mehreren archäo-
logischen Gesellschaften, Instituten und Universitäten
beweisen. Auch wir Kunsthistoriker haben alle Ver-
anlassung, seiner wenigstens an solchem Merktage
wie der 200. Geburtstag zu gedenken, abgesehen da-
von, daß die Kunstgeschichte eine Tochterwissenschaft
der Archäologie ist, weil er mitten in der Bewegung
des Klassizismus steht, der zu unserm Arbeitsgebiet
gehört. Soviel Neues Winckelmann gebracht hat,
auch er war ein Kind seiner Zeit und seine unge-
heure Nachwirkung wäre nicht möglich gewesen,
wenn nicht der Boden in verwandtem Sinne schon
vorbereitet gewesen wäre.

Welche Rolle spielte das klassische Altertum
im Kulturleben der Völker schon vor Winckel-
mann? Als Gegenstand wurde es in Oper und
Drama, in Malerei und Plastik seit der Renaissance
immer aufs reichste verwertet. Daneben trat die
antike Form in allen Künsten. In der Literatur
leiteten Übersetzungen, vornehmlich des Homer,
Pseudo-Anakreon, Seneca, Horaz, Ovid, besonders ins
Englische und Französische sie ein. Boileau ahmte
den Horaz nach,' Lafontaine entnahm die Stoffe seiner
Fabeln dem Äsop und Phädrus. Die französischen
Dramatiker des 17. Jahrhunderts glaubten nach den
Regeln des Aristoteles zu schaffen. Die deutsche
Literatur trat am spätesten in die antike Strömung ein,
dann aber um so nachdrücklicher. Über die ana-
kreontischen Dichter stieg sie zu Klopstock empor.
Durch seinen »Messias« machte er den Hexameter in
unserer Sprache heimisch, indem er es verstand, ihren
Geist mit dem des antiken Versmaßes zu verschmelzen.
An der strengen Metrik antiker Strophen wurde die
deutsche Sprache erzogen, kam in engste Berührung
mit der antiken Poesie und bildete ihre Form im
edlen Geiste der Antike aus.

Während in der Malerei nur ein Zweig, der
akademische, zu dem selbst ein Claude Lorrain bis
zu einem gewissen Grade gehört, klassizistisch blieb,
ging durch die ganze Barock- und Rokoko-Plastik
insofern ein antikisierender Zug, als die Grundauf-
fassung des menschlichen Körpers immer die griechisch-
 
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