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Kunstchronik und Kunstliteratur — 60.1926/​1927

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Heft 4 (Juli 1926)
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https://doi.org/10.11588/diglit.56597#0052
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KUNSTCHRONIK UND KUNSTLITERATUR

sind lombardische Künstler. In ihnen wird der Schmelz
und die Innigkeit, die Mystik und Symbolik eines Leonardo
zu neuem Leben erweckt. Die Stilleben und Landschaften
von Dudreville und Carrä, von Penagini und Pratelli,
Salietti und Tosi zeigen mehr oder weniger französische
Im- und Expressionen, gesehen durch südlicheres Tempera-
ment und unter leuchtenderem Himmel. Die Plastiken von
Rossi betonen das Dämonisch-pathologische. Die tänzerische
Verzückung einer Madonna von Wild ist nur verständlich
bei der ausgebildeten Gebärdensprache südlicher Völker.
Die römischen Künstler sind in viel geringerer Zahl vertre-
ten. Sie sind nicht so einheitlich und richtungsbetont wie
die Mailänder Gruppen. Die Rilder von di Cocco zeigen
in der pastosen Malweise der Seicentisten in der Auffassung
und Vertiefung des Gegenstandes eine ganz hohe Qualität. Rei
Ceracchini steht die große Komposition in seltsamem Wider-
spruch zu der illustrativen Koloristik. Pieracchini zeigt die
feinsten Lichteffekte in der Art Renoirs. Die Studienköpfe von
Trifolgio erfüllt eine zauberhafte Schwermut und Schön-
heit. Trobadori verschmilzt in seinen weiblichen Akten
hellenistisches Körpergefühl mit dem Pathos des Barock.
In Florenz entwickelt sich ein reicheres künstlerisches
Leben. Hier sind vor allem die Plastiker beachtenswert, die
an der Stätte Donatellos und Verrocchios, der Robbia und
Michelangelos noch heute bahnbrechend und schulbildend
wirken. Andreotti und Balsamo-Stella, Boncinelli
und Romanelli sind die Führenden unter ihnen. Immer
ist es die Rückkehr zum Einfachen, zum Primitiven und
Archaischen, das diesen Künstlern ihre Größe gibt. Es ist
die religiöseste Kunst, die Italien heute besitzt und die der
Stimmung umbrisch-toskanischer Landschaft entsprechend
auch in der Malerei ihren Ausdruck findet. Die „Serenata“
von Ferroni gibt in allen Linien den Wohlklang und den
Rhythmus italienischer Melodien wieder. Die Bilder Baccis
zeigen etwas von der süßen Schwermut, mit der uns die
Landschaft Fiesoles erfüllt.
Von den übrigen Künstlern verdienen noch Beachtung
die Pariser Bucci und Paresce, die eine heroische Land-
schaftsmalerei im Sinne Claude Lorraines pflegen. Der Ve-
nezianer Cadorini ist mit einer Pieta vertreten, die die
ganze Farbenpracht seiner Tradition, verbunden mit einer
neuen exstatischen Mystik, zum Ausdruck bringt. Guerini-
Ravenna zeigt in seiner Verkündigung eine Zartheit und An-
mut der Linie, wie sie vorher nur Boticelli, die Praeraffaeliten
und Melchior Lechter gekannt haben.
Oft ist der Versuch gemacht, neue Wege einzuschlagen.
Eine nationale Kunst zu finden, ist durch die starke erbliche
Belastung des französischen Im- und Expressionismus überaus
schwierig. Das, was den italienischen Bildern gemeinsam
ist, ist eine stärkere Leuchtkraft der Farbe, eine klare Kom-
position und der schöne Rhythmus der Linien. F. N.
MARSEILLE. Im Salon des Artistes de Provence
tritt fast nirgends typische Kunst in Erscheinung. Die Zeiten,
da Corot, van Gogh oder Gauguin von südfranzösischen Mo-
tiven inspiriert wurde, sind vorüber. Heute ist die Kunst
der Provence eine rohere Provinzkunst geworden. Bei Eugene
Giraud finden wir noch das naturliebende Auge derer von
Barbizon, bei Alexis Vollon noch die meisterhafte Technik
der Impressionisten, die Henri Aurrens pointillistisch variiert.
Frangois M. Berthet und Mathieu Verdilhan erreichen mit
starken Strichen und Farben tiefe Licht- und Schattenwir-
kungen, die dem Raum ungeheure Weite geben. Marcel
Leprin und Marius Vial verschmelzen eine utrillohafte Klar-
heit über Straßen- und Hafenbilder mit einer rousseauischen
Freude an miniaturhaft kleinen Dingen. Bei allen übrigen
Künstlern ist nur sehr wenig von Nationalem, Provenzali-
schem und Charakteristischem zu spüren.
MÜNCHEN. Die Eröffnung der „1. Allgemeinen
Kunstausstellung 1926“ im Glaspalast hat am 1. Juni

in feierlicher Weise durch den Ministerpräsidenten stattge-
funden. Die Ausstellung soll der deutschen Kunst Gelegen-
heit geben, ihre Kräfte wieder im Wettbewerb mit dem
Auslande zu messen und München, dem Raunen vom Nieder-
gange durch die Tat entgegenzutreten. Durch eine strenge
Auslese ist es gelungen, das Niveau der Ausstellung im Ver-
gleich zu früheren Jahren ganz bedeutend zu heben. Mit
besonderen Kollektionen sind von den Münchnern vertreten:
Samberger, Pictzsch, Seylcr, Habermann, Stuck, Zügel, der
verstorbene Becker-Gundahl, der Bildhauer Scharff, Caspar,
Schinnerer, Unold u. a., von Deutschen oder dem deutschen
Kulturgebiet angehörenden: Corinth, Liebermann, Slevogt,
Looschen, A. Kampf, Albrecht-Königsberg, Dettmann, Egger-
Lienz, Kubin usw. Die Ausländer wurden von den einzelnen
Hauptgruppen der Münchner Künstlerschaft direkt einge-
laden. So ist Holland mit einer Sonderschau von Breitner,
Norwegen durch Munch glänzend vertreten. Aus Frankreich
sind neben Arbeiten älterer Künstler auch solche der Jüng-
sten, Adrion und Utrillo, zu sehen. Die Schweizer, Ungarn,
Italiener, Russen und Spanier haben besondere Räume. Das
Hereinbeziehen der Werke verstorbener Künstler, wie von
van Gogh, ermöglicht einen willkommenen Überblick über
die Entwicklung dieses Künstlers.
PARIS. Im Hotel Jean Charpentier findet bis 10. Juli
eine Exposition Louis-Philippe statt, die die Kunst und
im Bilde das Leben von 1830 bis 1848 vorführt.
PARIS. Im Palais der Tuilerien kann man einen
Querschnitt durch die gesamte zeitgenössische holländische
Kunst studieren. Die große holländische Ausstellung von 1921
zeigte nur Meisterwerke der klassischen Zeit; heute zeigen
die Erben die Bedeutung ihres künstlerischen Schaffens. Die
Bilder der 70er und 80er Jahre, z. B. die Werke von II. I.
Wolter, tragen noch ganz das Gepräge französischer Schu-
lung im impressionistischen Spiel des Lichtes, in der Wahl
der Farben und des Stoffes. Toorop, Konijnenburg, Jan
Sluyters, Isaac Israels bezeichnen die Etappen des langen
Weges, der von vielen anderen Künstlern verfolgt und aus-
getreten wurde. Mit dem Expressionismus tritt eine starke
Verselbständigung, ein Wille zur nationalen Charakteristik
ein. M. A. J. Bauer wird sich seiner künstlerischen Ahnen
bewußt und erzielt mit knappen zeichnerischen Mitteln wahr-
haft rembrandtische Wirkungen. Auch G. H. Breitner er-
innert sich der unerschöpflichen Quelle der klassischen hol-
ländischen Malerei und zeigt gleichzeitig seine Fühlung mit
der fremden, besonders der französischen Kunst. Bei vielen
Malern des 20. Jahrhunderts findet man das mühevolle Suchen
und die arbeitsamen Kräfte, die das Zeichen der kleinen
Meister sind und die schon Fromentin als die „peintres assis“
von Holland bezeichnete. Solide, konstruktive Malerei, ohne
überspannte Gefühle unter friedlicher Vorherrschaft des Ver-
standes ist das Charakteristische dieser Kunst. Hollands
Malerei ist stark von außen inspiriert. Vielseitigkeit ist der
Hauptausdruck ihres neuen Schaffens. In der Kunst hat
Holland ebensoviel verloren wie gewonnen. Man ent-
fernt sich, wie auch in Frankreich, immer mehr von dem
linearen geometrischen Stil, um mehr zu einer salbungsvollen
pathetischen Form zu gelangen, reicher an Stolf und reicher
an Farbe. Seltsam ist die Vorherrschaft religiöser Motive:
Kirchgänge, Pilgerzüge, Madonnen, Apostel und Heilige sind
der Haupteindruck, den uns die Ausstellung hinterläßt.

MARBURG a. L. Professor Richard Hamann befin-
det sich auf einer halbjährigen Studienreise in Frankreich,
die mit einer ausgedehnten photographischen Aufnahme-Cam-
pagne der Kunstdenkmäler verbunden ist, und ist gern be-
reit, Anregungen zu Aufnahmen entgegenzunehmen und
sie nach Möglichkeit in sein Arbeitsprogramm einzugliedern.
Zuschriften erbeten an das Kunstgeschichtliche Seminar,
Marburg a. L.

Als Herausgeber verantwortlich: Prof. Dr. RICHARD GRAUL, Leipzig-Gohlis, Wilhelmstr. 51 — Verlag von E. A. SEEMANN, Leipzig, Hospitalstr. 11a
Druck von Ernst Hedrich Nachf., G. m. b. H., Leipzig — Netzätzungen von Kirstein & Co., Leipzig
 
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