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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 6.1895

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Lessing, Julius: Neue Wege
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https://doi.org/10.11588/diglit.4566#0010

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NEUE WEGE.

mehr an das Barock und 1890 mehr an das Rokoko
gehalten hat; man wird in jeder von unseren Ar-
beiten trotz aller Nachbildnerei die gemeinsamen
Züge aus der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts
wahrnehmen, ebenso wie in jeder Maskerade der
Kleiderschnitt der jeweiligen Träger erkennbar bleibt.

Das eigentliche Gesamtzeichen unserer Zeit ist
die Anschauung, dass man selbständige Erfindun-
gen nicht nötig habe, sondern durch Nachahmung
älterer Vorbilder sich ein gedeihliches Leben im
Kunstgewerbe zimmern könne.

Dies geschieht in der Kunst Europas nicht zum
erstenmal. Auch die italienische Renaissance des
15. und 16. Jahrhunderts hat mit Bewusstsein die
Nachahmung der antiken Formen vorgeschrieben,
und zwar als Wiedergeburt jener römischen Herr-
lichkeit, als derenberechtigtenErbenItaliensich ansah.

Ebenso hat die französische Republik die For-
men des alten Roms proklamirt, dessen republika-
nische Einrichtungen fortgesetzt werden sollten.
Dass bereits Ludwig XVI in diese Formen einlenkte,
ist ein Zeichen der welthistorischen Notwendigkeit,
mit welcher sich derartige Bewegungen vollziehen:
sowohl die Mediceer als Napoleon glaubten, Rom
wiedererweckt zu haben. Die Nachwelt sieht da-
seien weit mehr den Unterschied als die Ähnlich-
keit und erkennt mit Sicherheit den Stil der Re-
naissance und den Stil des Empire.

In ganz gleichem Sinne versuchten die Roman-
tiker im Anfang unseres Jahrhunderts die Kunst
des gläubigen Mittelalters wieder zu erwecken; an
ihre Erfolge auf kirchlichem Gebiet schließt sich
der neu erwachende kirchliche Geist unserer Tage
und erbaut so gut wie alle Kirchen in mittelalter-
lichem Stil.

In gleichem Sinne griff die Bewegung, die zur
Neuschaffung des deutschen Reiches führte, auf die
Formen der Reformationszeit zurück. Man glaubte
eine Zeit lang allen Ernstes in der deutschen Re-
naissance einen nationalen Stil geschaffen zu haben,
an dem man ohne weitere Erschütterung festhalten
könnte.

Ja, wenn die Welt nur zufrieden wäre ohne
fortwährende Veränderunsc und wenn man sich ab-
sperren dürfte gegen die Nachbarstaaten! Auch
ohne Eisenbahnen war die Renaissance über die
Alpen und das Rokoko über den Rhein gekommen,
heutzutage bringt die Sonne im Glas des Photo-
graphen, der Blitz im Draht uns Bild und Wort
jeder neuen Bewegung in wenigen Tagen und Wochen
aus jedem Teile der Erde.

Der ausschließlich deutschen Renaissance ließ
man der Abwechselung zuliebe die Formen der
nächst anschließenden Stilperioden folgen und griff
in das Mittelalter und in den Orient hinüber; aber
eine strenge Nachbildung der reichlich vorhandenen
Modelle erfolgt doch nur in den seltensten Fällen.
Man verändert und mischt unseren Bedürfnissen
entsprechend; hierüber ärgern sich die Stilgelehrten,
aber mit Unrecht. Gerade in dieser Willkür offen-
bart sich das Lebenselement, dasjenige, was spätere
Perioden als den eigentlichen Stil unserer Zeit an-
erkennen werden.

So wäre denn alles wohl berechtigt und zum
besten bestellt?

Durchaus nicht.

Wenn in früheren Zeiten — bis zum Anfang
unseres Jahrhunderts — eine Periode darauf aus-
ging, ältere Vorbilder zu kopiren, so hielt sie sich
an die Werke eines einzelnen Kulturabschnittes; sie
hatte zunächst ein sehr geringes Material an Vor-
lagen und diese wurden in freier Handarbeit will-
kürlich und unwillkürlich umgestaltet; bei jedem
Ornament, das ein Schüler Raffael's nach altrömi-
schen Wandmalereien kopirte, brachte er etwas von
seinem Formenempfinden hinein, und so entstand das
groteske Ornament der Loggien als selbständige
Kunstgruppe. Für weitaus die meisten Bedürfnisse
waren keine Vorbilder vorhanden; man komponirte
frei darauf los.

Dagegen hat unsere Zeit zunächst durch Photo-
graphieen eine so ungeheuere Menge von Vorbildern,
dass die freie Schöpferkraft nahezu erstickt wird.
Die Handarbeit findet sich auch bei uns noch durch;
der eigentliche Kernpunkt der Frage liegt bei
der Maschinenarbeit. Wenn heute eine pompeja-
nische Wandmalerei kopirt werden soll, so erhält
man die Zeichnung mit photographischer Treue, und
dieselbe Zeichnung wird durch Druck auf Hundert-
tausende von Tapeten, Friesen, Steingutteller über-
tragen; die dabei beschäftigten Hunderte von Ar-
beitern sind nur noch Teile der Maschine.

Wir stehen durch die moderne Fabrikindustrie
vor einem völlig veränderten Gewerbsbetrieb, aber
haben uns nicht entschlossen, unseren Formenkreis
diesem Betriebe anzupassen. Dies ist der eigentliche
wunde Punkt, die Krankheit unseres modernen Kunst-
gewerbes, aus welcher es nicht ohne einen ener-
gischen Häutungsprozess gesund hervorgehen kann.
Aus diesem Keim heraus entwickeln sich alle Krank-
heitserscheinungen: die Handarbeit schuf ein ein-
zelnes Ornament mit Fleiß und Kosten, für seine
 
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