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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 8.1897

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Minkus, Fritz: Die menschliche Figur als dekoratives Element, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4884#0124
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DIE MENSCHLICHE FIGUR ALS DEKORATIVES ELEMENT.

107

Altes Balkongitter vom ehemaligen Kegierungsgebäuäe In Konstanz.

Gezeichnet von 0. Bethäüser, Gewerbelehrer in Mannheim.

und dasselbe lineare Ornament in seiner stetigen Ent-
wicklung immer mehr die complizirt geschwungenen
durch gerade oder einfach-runde Linien ersetze, und dass
der Trieb zur Symmetrie nach und nach einseitige Orna-
mente völlig umgestalte; sie verfolgten nun eine Reine
ähnlicher linearer Ornamente zurück, und wahrend sie
von einem möglichst einfachen, symmetrischen Linien-
ornament ausgegangen waren, fanden sie, immer von
dem einfacheren zum complizirteren übergehend, am
Ende, beziehungsweise am Anfang ihrer Reihe das BUa

des Menschen! ,

Jetzt war das Rätsel gelöst! Denn dem denkenden
Beurteiler war es stets ein Rätsel geblieben, dass die
erste künstlerische Thätigkeit des Menschen einzig und
allein in geometrischen Verzierungen bestanden haben
sollte. Allerdings ergaben gewisse Techniken, die
Weberei und Flechterei durch Einschießen andersfarbigei
Fäden, die Töpferei etwa durch Andrücken eines Steines
an das rotirende, noch weiche Thongefäß die Linie von
selbst; die Linie brauchte also, als solche, nicht erfun-
den zu werden; aber im allgemeinen ist die Linie, zu-
mal das aus ihr gebildete geometrische Ornament, eine
viel zu complizirte Abstraktionsarbeit für das schwach
entwickelte Gehirn des primitiven Menschen. So durfte
auch die Erfindung der in Wirklichkeit nicht existiren-
den Konturlinie viel später erfolgt sein als die Wieder-
gabe eines Körpers nach seinen drei Dimensionen, mit
einem Worte, die Plastik dürfte der Zeichnung und

Malerei im allgemeinen lange vorausgegangen sein. Die
meisten wilden Völker unserer Tage sind viel bessere
Plastiker als Zeichner und erfassen eine plastische Dar-
stellung viel besser als eine graphische: je niederer der
Vernunftsgrad ist, um so geringer ist das Vermögen, aus
einer linearen Zeichnung die Körperlichkeit zu rekon-
struiren; das Tier erkennt ein zum Sprechen ähnliches
Porträt seines Herrn nicht, es sieht in ihm nur eine
verschieden gefärbte Fläche: eine ungeschickte Strohpuppe,
ähnlich groß und ähnlich bekleidet wie sein Herr, wird
es von ferne für ihn halten. Dass unsere kleinen Kinder, die
}a in Bezug auf die Höhe ihres Intellekts mit den primitiv-
sten Völkern etwa auf gleiche Stufe zu stellen wären, ver-
hältnismäßig früh ein Verständnis für flächenhafte lineare
Darstellung entwickeln, lässt sich vielleicht einerseits
auf Vererbuug, andererseits darauf zurückführen, dass
sie von Anbeginn an gewohnt sind, solche Darstellungen
zu sehen und erklären zu hören. Trotzdem bleiben
ihnen Bilder lange nichts als konventionelle Zeichen für
die dargestellten Gegenstände — eine Bilderschrift!
Das beste Gemälde wird die kindliche Phantasie niemals
in dem Grade anregen, wie die ungeschlachtetste Holz-
puppe!

Der Umstand allein, dass dem primitiven Menschen
die lineare Wiedergabe eines Gegenstandes unverständ-
licher ist als die plastische, kann als vollgiltiger Beweis
dafür angesehen werden, dass sich neben der durch
manche Techniken und mancherlei Zufälligkeiten ge-
 
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