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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 14.1903

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Über die neuere Richtung in der Baukunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.4359#0196
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BUCHEINBÄNDE VON WILHELM RAUCH, HAMBURG

BUCHSCHMUCK
VON

H. VAROES,
BERLIN

ÜBER DIE NEUERE RICHTUNG
IN DER BAUKUNST

DIE künstlerische Aufgabe der Baukunst besteht
darin, das im Geiste des Baumeisters heran-
gereifte Bild seines Werkes so zum Ausdruck
zu bringen, dass im Beschauer die vom Baumeister
gewollte Stimmung zum Anklingen gebracht wird.

Der künstlerische Schöpfungsvorgang pflegt, wie
bei den übrigen Künsten, so auch in der Baukunst,
gewöhnlich so zu verlaufen, dass dem Baumeister
zuerst der Grundgedanke des Entwurfs nur in seiner
allgemeinen Gestalt in grossen unbestimmten Umrissen
vorschwebt und erst nach und nach beim weiteren
Durcharbeiten festere Formen annimmt.

Wenn es sich etwa um ein Rathaus handelt, so
könnte der Grundgedanke vielleicht darin bestehen,
dass in dem Bau trotziges Selbstbewusstsein der Bürger-
schaft oder altererbte Vornehmheit, patriarchalische
Behaglichkeit, stolze Entfaltung des Reichtums oder
eine sonstige bezeichnende Stimmung zum Ausdruck
gebracht werden soll. Aus diesem Grundgedanken
heraus beginnt der Künstler dann die Ausarbeitung,
nachdem zuvor die für eine brauchbare Lösung der
Aufgabe erforderlichen Nutzteile des Baues, unter

Kunstgewerbeblatt. N. F. XIV. H. 10.

Berücksichtigung ihrer dem Gebrauch angemessenen
Ausgestaltung und zweckmässigen Benutzung, sowie
unter Beachtung der durch den Baustoff und die
Haltbarbeit gebotenen Rücksichten, aufgezeichnet sind.
Es wird so erst das Gerippe des Entwurfes festgelegt.
Durch diese Ausarbeitung klärt sich der allgemeine
Grundgedanke mehr und mehr ab und die Gliederungen,
Teilungen und die vorläufige Durcharbeitung der Einzel-
formen ordnen sich in dem gewollten Sinne zusammen.
Der Künstler fährt in dieser Durcharbeitung und Ab-
stimmung seines Werkes, bei der nicht selten der
erste Grundgedanke verlassen und ein passenderer
an dessen Stelle gesetzt wird, solange fort, bis der
aus der Einbildungskraft in die greifbare Wirklichkeit
hervorgetretene Entwurf seiner gewollten Stimmung
entspricht. Bei der Ausführung hat er dann noch
die Schwierigkeiten zu überwinden, die sich der Über-
setzung seines Entwurfes in das thatsächliche Bau-
werk entgegenstellen. Wenn dann schliesslich auch
der fertige Bau im Beschauer die vom Künstler ge-
wollte Stimmung hervorruft, dann hat dieser seine
Aufgabe als Künstler gelöst.

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