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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 18.1906-1907

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Kunstgewerbliche Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.4869#0111

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KUNSTGEWERBLICHE RUNDSCHAU

SYMMETRIE UND GLEICHGEWICHT1)

Der neue Vorstand des Landesgewerbemuseums, der
erste Kunstgelehrte an dieser Stelle, hat sich durch eine
feine Leihgabenausstellung mit einer glücklichen Leitidee
und einem geistvollen -Führer:; beim schwäbischen Publi-
kum aufs beste eingeführt. Namentlich diese literarische
Arbeit ist es wert, auch in weiteren Kreisen bekannt zu
werden. Auch die im Anhang des Führers abgedruckten
Äußerungen bekannter Ästhetiker und Künstler sind nicht
bloß in ihrer Verschiedenheit unterhaltend zu lesen, sondern
helfen mit zur Klärung der Frage. Es ist also sicherlich
bei dieser Unternehmung mehr herausgekommen, als das,
was schwäbische Skeptiker vorhersagten: die Erkenntnis,
daß man es so machen könne, aber auch anders.

Angeregt, wie es scheint, durch Gottfried Semper,
untersucht Pazaurek zunächst den Begriff Symmetrie und
faßt ihn im engeren Sinn des Worts, mit einem Ausdruck
der modernen Naturhistoriker, als »bilaterale Symmetrie»
beim Gleichgewicht — im ästhetischen Sinn, auf dem Gebiet
der bildenden Kunst, handelt es sich ebenfalls um die Ver-
teilung zu beiden Seiten einer mittleren Richtungslinie oder
-ebene, aber nicht unbedingt gefordert wird dabei die
Nebeneinanderstellung der beiden Teile; noch weniger die
genaue Kongruenz von links und rechts und die Gleichheit
der Abstände von der Achse für alle Teile. Man verlangt
nur ein beiläufiges Gleichmaß, wobei nicht Zirkel und
Spiegel, sondern das Gefühl den Ausschlag gibt. Es gibt
bei der künstlerischen Komposition zahllose Fälle, in denen
nicht gemessen oder gezählt, sondern abgewogen werden
muß. Die Tafelmalerei als die am wenigsten geometrisch
gebundene Kunst, ist auch hierin am freisten; und so wird
heutzutage das Wort »malerisch- geradezu gleich »un-
symmetrisch« gebraucht. Aber Gleichgewicht ist nicht gleich-
bedeutend mit Unsymmetrie. Ebensowenig ist Symmetrie
zu verwechseln mit Stilisierung.

Zu den schon von der modernen Kulturgeschichte ge-
brauchten Unterabteilungen: bi/ateraleSymmetrie und radiale
Symmetrie (für Kreis- und Kugelbildungen) fügt Pazaurek
die diagonale oder heraldische Symmetrie, die bei näherer
Betrachtung aber zu den Gleichgewichtsbestrebungen ge-
hört. Obwohl es sich auch hier um kongruente Bestand-
teile zu beiden Seiten einer Achse handelt, fehlt hier mit-
unter die Gleichartigkeit (gleiche Farbe) oder die gleiche
Höhe der Gegenstücke, oder selbst die Gegenüberstellung
(Spiegelumkehr). Ähnliches gilt von der sogenannten
reeiproken Symmetrie: rechts und links sind kongruent,
gleich hoch und gegeneinandergekehrt, aber die Farben'
oder Helligkeitsgrade ergänzen einander so, daß die ent-
sprechenden Teile entgegengesetzten Ton zeigen (Verein-
fachung der Sagearbeit bei eingelegten Möbeln u. dergl.)

Es gibt eine Symmetrie und ein Gleichgewicht nicht
mir der Linien und Flächen, sondern auch der Farben und
der Lichtverteilung. Diese bisher noch gar nicht gewürdigte
Tatsache zeigt uns namentlich die Werke der Malerei viel-
fach in einem neuen Licht und erklärt manch unbewußtes
Gefallen oder Mißfallen.

Bei allen Körpern und bei allen senkrechten Flächen

1) Zur Ausstellung des Kgl. Württemb. Landesgewerbe-
museums Stuttgart, 1907. Katalog von Prof. Dr. Gustav
E. Pazaurek.

hat die senkrechte Achse, entsprechend dem Bau des
menschlichen Gesichts, den Vorzug vor der wagerechten.
Nur wenn es sich um die Gliederung einer horizontalen
Fläche handelt, mag sie sich uns in Aufsicht oder Unter-
sicht zeigen, verzichten wir auf die Vertikalachse. Dann
genügt uns aber auch in der Regel (außer es handle sich
um ungewöhnlich langgestreckte Rechtecke, wie bei einem
Gang), eine Achse nicht, wir verlangen deren bei vier-
eckiger Fläche zwei, die sich im rechten Winkel kreuzen.
Beim Dreieck und den Polygonen bis zum Kreis tritt an
die Stelle der beiderseitig bilateralen Symmetrie die radiale.
Bei der Ellipse kommen beide zusammen.

Wenn sich die Symmetrie zur höheren künstlerischen
Ordnung, zum Gleichgewicht erhebt, treten an Stelle der
Maße und Zahlen Gefühlsniomenle: die mathematische
Achse geht über in die psychologische. Die Wiederholung
ist eines der ursprünglichsten Kunstmittel in sämtlichen
Künsten und sogar ein beliebter Kniff, das Anormale
normal erscheinen zu lassen. Aber die Freude am Kon-
trast, zusammenhängend mit temperamentvoller Individua-
lität, sucht in stetigem Ringen mit der mächtigeren Freude
am Gleichen dieses etwas von ihren Boden zu nehmen
und bespöttelt die allzubequeme Symmetrie, bei der die
Hälfte des Gedankens durch mechanische Wiederholung
für das Ganze ausreichen muß. Die immer vorwiegend
konservative Welt duldet jedoch auf die Dauer in keinem
Gebiet ein Heraustreten vereinzelter Widerstandskraft; die
unvermeidlichen Nivellierbestrebungen setzen die Freude
am Gleichen wieder in ihr Recht und sorgen dafür, daß
die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Fassen wir
die Extreme ins Auge: Symmetrie, Asymmetrie, und ver-
folgen wir sie in ihren Steigerungen: Symmetrie, Ruhe,
Steifheit, Pedanterie, Langeweile, Tod; Asymmetrie, Un-
ruhe, Wahnsinn, Anarchie, Chaos. Nach beiden Richtungen
dieselbe, wenig erbauliche Aussicht: Das Aufhören der
Kunst, die Auflösung in Atome. Wir müssen uns also
im allgemeinen vor Übertreibungen nach beiden Seiten
hüten, vor der gedankenarmen Philistrosität ebenso wie
vor der unmotivierten Freiheit, der schrankenlosen Willkür.
Die allgemeinen Naturgesetze, Statik und Dynamik gelten
auch für das Gleichgewicht und die Bewegung im künst-
lerischen Schaffen: sie sind das beste,das einzigMechanische,
das wir uns hier erlauben dürfen.

Die folgenden Kapitel des Führers entsprechen je
einer Abteilung der Ausstellung. Eins behandelt die Vor-
bilder in der Natur; den menschlichen Körper, unsym-
metrische Körper in der organischen Natur, symmetrische
in der anorganischen. Wenn wir uns nicht täuschen,
scheint die Naturentwickelung in der Richtungder Asymmetrie
weiterzuschreiten.

Symmetrie in der Kleidung und Bewaffnung und in
der Heraldik: Man kennt die Miparti-Mode (vetement
blasonne). Wichtiger sind die Beobachtungen über die
Entstehung der unsymmetrischen Trachten: aus ungenähten
Umwürfen, wobei der rechte Arm zum Gebrauch frei
bleiben soll. Die drapierte Kleidung ist also auch in
Rücksicht auf die Symmetrie malerischer. Warum aber
hält das weibliche Geschlecht zu allen Zeiten strenger
an der Symmetrie der Kleidung fest als das männliche,
so daß auch ihre Modetorheiten durchweg in der Symmetrie-
achse sich bewegen ? Offenbar, weil das Gegenteil unter-
nehmend aussieht und als unliebsam auffallend gilt. Man
 
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