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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 18.1906-1907

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Michel, Wilhelm: Die Münchener "Lehr- und Versuchateliers für angewandte und freie Kunst" (W. v. Debschitz)
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https://doi.org/10.11588/diglit.4869#0117

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O. BI.UMEL. I.ITHOORAPHIE

DIE MÜNCHENER LEHR- UND VERSUCHATELIERS
FÜR ANGEWANDTE UND FREIE KUNST« (W. v. DEBSCHITZ)

Von Wilhelm Michel

PÄDAGOGISCHE Reformbestrebungen nehmen
im Geistesleben der Gegenwart einen von Jahr
zu Jahr wachsenden Raum ein. Sie erscheinen
als die natürliche Folge unserer neuen psychologischen
Einsichten; denn Erziehungskunst war niemals etwas
anderes als angewandte Psychologie. Da aber auch
die Psychologie von jener großen Macht abhängig
ist, die wir den Zeitgeist nennen, so ergibt sich, daß
die Neuerungslust auf erzieherischem Gebiete ihren
Grund in den Fortschritten der allgemeinen Kultur
hat. Dieselben Neuerungen, die dem Zeitgeiste sein
verändertes Gepräge geben, wirken auch auf das Werk
der Erzieher bestimmend ein.

Die große Entdeckung der Gegenwart war das
Individuum. Sie erfolgte als ein Rückschlag gegen
den entarteten Idealismus der Epigonen, der nur ab-
solute, unpersönliche Werte zu kennen vorgab. Ihm
gegenüber fiel den Männern des fin du siecle die
Relativität, die subjektive Bedingtheit aller Werte heiß
aufs Herz, und wie in panischem Schrecken hüben
sie an, von den Möglichkeiten und Schranken, von
den Wundern und Abgründen der Persönlichkeit zu
reden. Wer fing es an? Schopenhauer vielleicht,
vielleicht schon Kant. Sicher ist jedenfalls, daß

Kunstgewerbeblatt. N. F. XVIII. H. 6

Nietzsche nicht der Säemann der individualistischen
Saat, sondern schon der Schnitter reifer Ernten war,
die vielleicht maßlos staunten, gerade dieser Sense
zum Opfer zu fallen. Das Individuum erkannte sich
bei ihm und anderen nicht nur als Weltspiegel, sondern
geradezu als Weltschöpfer. Es fühlte sich als festen
Mittelpunkt zahlloser Beziehungsverhältnisse und sah
alle die anspruchsvollen Ideengebilde, deren Forde-
rungen es so lange bedrängt hatten, zu seinen Dienern,
zu seinen Geschöpfen herabgesunken.

Wir wissen, mit welcher Rücksichtslosigkeit man
dem individualistischen Gedankenkeim Blüte um Blüte,
Folgerung um Folgerung abrang; wie man auf allen
Gebieten, Ethik, Erkenntnistheorie, Ästhetik, Religion,
Kritik, die Radizierung auf das Subjekt vornahm; wie
man sich an Umwertungen aller Art berauschte und
alte Begriffe unermüdlich mit neuem Inhalt füllte.
Und weil ja von jeher in jedem festen, einseitigen Stand-
punkte Möglichkeiten des Wahren und des Falschen
hart nebeneinander liegen, so schoß auch hier neben
manchem Guten viel schlimme Saat empor, und was
von den Feldern in die Scheunen floß, war wohl ganz
neues, aber sehr gemischtes Gut, das der Schleuder
dringend bedurfte.

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