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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 21.1910

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Pabst, Arthur: Grosse Männer und die Schule: Bemerkungen über Erziehung im Anschluss an Wilhelm Ostwalds Buch "Grosse Manner"
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https://doi.org/10.11588/diglit.4873#0162

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GROSSE MÄNNER UND DIE SCHULE

BEMERKUNGEN ÜBER ERZIEHUNG IM ANSCHLUSS AN WILHELM OSTWALDS BUCH ^GROSSE MANNER ')

Von Direktor Dr. Pabst-Leipzio

AN Wilhelm Ostwald, der als einer unserer größten
Naturforscher neuerdings auch durch die Ver-
leihung des Nobelpreises anerkannt worden ist,
wurde einmal die Frage gerichtet, wie man künftige
ausgezeichnete Leute recht frühzeitig erkennen könne.
Diese Frage ist ihm der Anlaß gewesen, die Entwicke-
lung einer Reihe von hervorragenden Naturforschern
eingehend zu untersuchen, und das Resultat dieser Unter-
suchungen stellt er, gewissermaßen als ein Neben-
ergebnis seiner wissenschaftlichen Studien, in dem vor-
liegenden Werke dar. Es enthält die Biographien von
Humphry Davy, Julius Robert Mayer, Michael Faraday,
Justus Liebig, Charles Gerhardt und Hermann Helm-
holtz, und aus diesen Biographien werden eine Reihe
von allgemeinen Folgerungen gezogen. Zunächst läßt
sich feststellen, daß besonders begabte Schüler fast immer
daran zu erkennen sind, daß sie nicht mit dem zufrieden
sind, was ihnen der regelmäßige Unterricht bietet.
Dieser muß selbstverständlich auf einen gewissen mitt-
leren Durchnitt eingerichtet sein; ist ein Schüler über
diesen Durchschnitt hinaus begabt, so wird ihn das Ge-
botene nicht befriedigen und er wird nach mehr oder
doch wenigstens nach anderem verlangen. Diese Erschei-
nung kann freilich bis zu einem gewissen Grade auch eine
Folge von Frühreife sein, und in diesem Falle berechtigt
sie keineswegs zu der Hoffnung auf eine spätere hervor-
ragende Leistungsfähigkeit des betreffenden Individuums.
Die Erfahrung lehrt im Gegenteil, daß frühreife Knaben es
im späteren Leben meist zu nichts Besonderem bringen.
o Für jeden, der etwas über den Durchschnitt Hinaus-
gehendes leisten soll, ist die wichtigste geistige Eigen-
schaft die Originalität, d. h. die Fähigkeit, etwas Eigenes
zu bieten, sich also etwas einfallen zu lassen und etwas
zum Ausdruck zu bringen, was über die Aufnahme des
Dargebotenen hinausgeht. Diese Eigenschaft zeichnet
nicht nur den großen Forscher, sondern vor allem auch
den Künstler aus. Alle anderen Eigenschaften, die beide
besitzen müssen: Fleiß und Gewissenhaftigkeit, Fähig-
keit des genauen Arbeitens und der Selbstkritik, Kennt-
nisse und technische Fertigkeiten, alle diese so unbedingt
nötigen Eigenschaften lassen sich durch Erziehung er-
werben. Aber dieOriginalität hat von allen Eigenschaften
bei weiten am meisten den Charakter einer angeborenen,
ursprünglichen Begabung, und bei dem Problem der
Erziehung handelt es sich also zunächst darum, diese
angeborene Begabung zu erkennen und zu entwickeln.
□ Für die Arbeit in unseren Schulen ergeben sich hier-
aus äußerst wichtige Richtlinien. Denn wenn die Schulen
auch nur für den Durchschnitt berechnet sind und
dessen Entwickelung hauptsächlich ins Auge fassen
müssen, so sollten sie doch andererseits auch der Ent-
wickelung besonderer Talente den nötigen Spielraum
gewähren und alles vermeiden, was deren Unterdrückung
zur Folge haben könnte. Wir dürfen also mit anderen
Worten den Hauptwert nicht auf die sogenannte All-
gemeinbildung legen, die es darauf absieht, jede Indivi-
dualität in ein gewisses Schema einzupressen und aus dem
gesamten Schülermaterial eine möglichst gleichmäßige

1) Leipzig, Akadem. Verlagsgesellschaft, 2. Aufl. 1910.

Masse herzustellen. Durch dieses Bestreben richten ge-
rade unsere besten Schulen oft direkt Schaden an, indem
sie begabte Individualitäten unterdrücken, die nicht stark
genug sind, sich auch gegen die Schule durchzusetzen.
□ Heinrich Seidel, der feinsinnige Dichter, vergleicht die
Schulen in treffender Weise mit Forstkulturen; was dort
die einzelnen Klassen bedeuten, das sind hier die Scho-
nungen verschiedenen Alters. »Sieht man eine Kiefer, die
sich frei nach allen Seiten hat entwickeln können, so wird
man erfreut durch die kraftvolle Eigenart des Baumes,
den man dann gar wohl der südlichen, um so vieles be-
rühmteren Pinie vergleichen kann. In der Schonung
aufgewachsen aber werden alle Stämme gleich lang und
schlank und ebenmäßig und sind oben mit einem öden
grünen Büschel versehen; aber sie geben ein vortreff-
liches Nutzholz. Das gleiche erzielt auch die Schule. Sie
drückt die Begabten herab zur schönen, goldenen Mittel-
mäßigkeit und zerrt die minder Begabten zu dieser be-
gehrenswerten Stufe empor. Und wie das Auge des Forst-
mannes lacht, wenn er so eine gut bestandene Schonung
befrachtet, wo ein Baum aussieht wie der andere, so freut
sich auch der richtige Schulmeister, wenn er seine schöne,
gleichmäßige Ware an die nächste Klasse abliefern kann.
□ Dieses Forstmeisterprinzip mag wohl ganz gut und
nützlich sein, aber richtige Kiefern sind das nicht mehr,
die man dort erzielt, sondern nur Bauholzkandidaten.
Und wenn nicht manchmal trotz alledem ein solcher
Baum durch günstige Umstände Luft und Licht um sich
bekäme, daß er sich entwickeln kann nach seiner zwar
etwas knorrigen Eigenart zu kraftvoller und eigentüm-
licher Schönheit, so wüßten wir am Ende gar nicht
einmal mehr, wie eine Kiefer wirklich aussieht.« □
a Es liegt nahe, aus dem Gesagten Folgerungen zu
ziehen, die für die richtige Art der Erziehung bestimmend
sind. Ob es sich dabei um Durschnittsmenschen, oder
ob es sich um künftige große Forscher, Künstler oder
auf anderen Gebieten kultureller Arbeit ausgezeichnete
Männer handelt, kommt erst in zweiter Linie in Betracht,
denn häufig genug entwickeln sich die besonderen Ta-
lente erst verhältnismäßig spät und können bei den vor-
bereitenden Maßnahmen der Erziehung im einzelnen
noch nicht berücksichtigt werden. Immer aber muß die
Erziehung darauf bedacht sein, daß nicht in der bloßen
Nachahmung, und wenn sie noch so geschickt wäre, die
Hauptaufgabe der unterrichtlichen Tätigkeit gesucht
werden darf. Nachahmung ist eine Sache des Wissens
und des mechanischen Könnens; mit dem schöpferischen
Wollen und Tun hat sie nichts gemein, ja, sie ist nicht
einmal die richtige Vorstufe dazu. Denn schöpferisches
Tun entspringt aus der Originalität, aus dem lebendigen,
persönlichen Empfinden, aus Kräften, die im Menschen
liegen unddiedie Erziehungwohlzur Entfaltungbringen,
aber nicht durch eine nach Art des Nürnberger Trichters
arbeitende Methode in den Menschen hineingeben kann,
n Die Reformbedürftigkeit unserer Schulen aller Art,
gleichviel ob für den elementaren oder für den höheren
Unterricht, wird durch derartige Erwägungen in ein
neues Licht gesetzt. Sie ist ja auch von anderer Seite her
schon oft genug begründet und in der verschiedensten
Weise dargetan worden, worauf es dabei ankommt.

(Fortsetzung auf Seite i$j)
 
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