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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 21.1910

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Widmer, Karl: Das naturalistische Ornament
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https://doi.org/10.11588/diglit.4873#0193

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DAS NATURALISTISCHE ORNAMENT







Klasse Winckel: Frl. Job. Qiesecke, Selbstporträt. Radierung

überlieferten schematisclien Blattwerk des Romanischen
und schöpfte die Motive einer eigenen Ornamentik aus
der heimischen Pfanzenwelt. Hat sich schon in der
Gotik das neue Ornament sehr rasch zu einem vollen
Naturalismus ausgewachsen, so trafen in unserer Zeit
vollends alle Gründe zusammen, um der neuen Be-
wegung von Anfang an einen ausgesprochen natura-
listischen Charakter zu verleihen. a
a Wichtig ist zunächst die Tatsache, daß die Erfinder
des neuen Ornaments Künstler, nicht Handwerker sind:
Es ist die Konsequenz einer Entwicklung, die bis in
die Renaissance zurückreicht. Während im Mittelalter
Entwerfen und Ausführen in der einen Person des
Handwerkers vereint gewesen war, beginnt in der Re-
naissance die allmähliche Loslösung der künstlerischen
Erfindung von der handwerklichen Herstellung. Von
da an treten auch durch alle folgenden Zeiten neben den
berufsmäßigen Männern des Kunstgewerbes, den Orna-
mentstechern, Dekorateuren, Porzellanmalern- und Mo-
delleuren usw. immer gelegentlich freie Künstler als
Entwerfer kunstgewerblicher Gegenstände auf. Aber
doch mehr nebenher in gelegentlicher Nebenbeschäfti-
gung. Und so lange dem Handwerk die Ausführung
blieb, behielt der Handwerker auch immer noch einen
gewissen Anteil an Erfindung und Formgebung. Etwas
ganz neues ist es, daß in unserer Zeit Maler und Bild-
hauer das Handwerk von sich aus neu schaffen und
dabei im Handwerk völlig aufgehen. Es ist begreiflich,
daß eine von der Malerei und Bildhauerei und nicht vom

Handwerk herkommende Erneuerung des Ornaments
die Spuren ihrer Abkunft nicht verleugnet hat, zumal da,
wo die moderne Technik mit ihren abstrakten, die
Materialgrenzen verwischenden Produktionsformen dem
naturalistischen Schaffen keine Stilschranken auferlegt:
Wie denn überhaupt der Einfluß einer Kulturentwick-
lung, die seit Jahrhunderten in immer gesteigertem Tempo
daran gearbeitet hat, den natürlichen Boden des Stil-
gefühls zu unterwühlen, erst überwunden werden mußte,
o Dazu kommt der besondere Einfluß der japanischen
Kunst. Von allen äußeren Momenten war ihr Vorbild
die unmittelbarste und stärkste Anregung, zur Natur
zurückzukehren. So wie die europäischen Künstler sie
kennen lernten, war sie aber selbst schon im Stadium
eines fortgeschrittenen Naturalismus angelangt. Es ist die
naturalistische Plastik (Raubvögel auf Felsen, Schlangen
u. dergl.) der modernen, ihrerseits schon vom euro-
päischen Einfluß angekränkelten japanischen Gefäß- und
Geräteverzierung. Und es ist in der Flächendekorations-
kunst, die vom Anfang des achtzehnten bis in die sieb-
ziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts blühende zier-
liche, detaillierende Kleinmalerei der Shijo- oder natura-
listischen Schule in ihrer Anwendung auf das Kunst-
gewerbe, die in Europa als typisch japanisch bekannt
wurde: Also die japanische Kunst in der letzten Phase
ihrer nationalen Entwicklung. Neben der eigentlichen
Gebrauchskunst kommt dabei namentlich auch der japa-
nische Holzschnitt in Betracht. o
□ Von Frankreich, wo der Naturalismus am entschieden-
sten aufgetreten ist, ist auch das Studium der japanischen
Kunst mit ihrem Einfluß auf das Kunstleben der Gegen-
wart hauptsächlich ausgegangen und es ist bezeichnend,
daß vor zweihundert Jahren der asiatische Osten schon
einmal über Frankreich eine ähnliche Wirkung auf das
europäische Kunstgewerbe ausgeübt hat. Nachdem der
Japanismus in der Delfter Fayence-Kunst schon im sieb-
zehnten Jahrhundert eine der beiden Hauptrichtungen des
Delfter Dekorationsstils bestimmt hatte (durch Aelbregt
de Keyzer) war es das Rokoko, dessen ganze Geschmacks-
entwicklung auf einer innigen Verwandtschaft mit der japa-
nischen und chinesischen Kunst beruht. Es hat nicht nur

Klasse Winckel: Otto Müller, Porträt Martin Engel. Lithographie
 
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