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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 22.1911

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Otto, Karl Heinrich: Werktechnische Kompromisse
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https://doi.org/10.11588/diglit.4361#0033

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WERKTECHNISCHE KOMPROMISSE
Von Karl Heinrich Otto

IN unserer Zeit bemüht man sich besonders eifrig
und mit großer Ehrlichkeit, allen Dingen mit jener
echt deutschen Gründlichkeit zuleibe zu gehen,
die mit seltenem Erfolge Vergangenes, Gegenwärtiges
und Zukünftiges festzulegen vermag. Der Deutsche
hat es wohl von allen Völkern stets am allerwenigsten
vermocht, sich der Gegenwart immer so ganz zu
freuen; er war meistens zurück und häufig eine große
Strecke voraus. Nicht zum Schaden kultureller Arbeit
an sich, wohl aber zum Nachteil der jeweiligen Zeit-
genossen selbst. Es war immer etwas Sprunghaftes,
Wellenbewegung mit Höhen und Tiefen. Und was
der Gelehrte tat, das glaubte der gewöhnliche Mann
auch tun zu müssen; jeder war in seiner Art immer
Sucher, Erfinder und Entdecker zugleich. Unzähliges
wurde auf diese Weise immer wieder individuell ans
Tageslicht gezogen; jeder Deutsche lebt dem Wahne,
das Pulver immer wieder aufs Neue erfinden zu müssen;
das war namentlich alle Zeit die Stärke des deutschen
Dilettantismus in technischer wie geschmacklicher Hin-
sicht. □
□ Alle unsere Arbeitsabsichten wurzeln darin, schöp-
ferisch erzeugend zu sein, möglichst jedem Dinge eine
Seele einzuhauchen, jeder häßlichen Sache eine schöne
Form zu geben. Es mag sein, daß es dem Menschen
überhaupt innewohnt, auch den nichtigsten Dingen
einen Inhalt zu geben oder einen solchen wenigstens
darin zu erkennen, woraus dann ja schießlich der
künstlerisch schaffende und gestaltende Trieb hervor-
gegangen ist. Und wenn die wachsende Generation
trotz aller Errungenschaften immer wieder am eigenen
Fleische lernen zu müssen glaubt, so ist das eben
wohl Menschenschicksal: immer Suchende, immer An-
fänger zu sein, um alles von vornherein zu erleben
und zu erarbeiten. Wir kommen eben alle nur als
Kinder zur Welt; Erkenntnis wächst aber nur durch
Erfahrung, nicht durch Anschauung. Darin wurzelt
zu allererst das Erfassen von Ursache und Wirkung,
der kausale Zusammenhang zwischen Absicht, Auf-
wand und Leistung, wodurch wir zur Erfassung der
Dinge geführt werden. Es liegt nahe, daß die Mensch-
heit sich nicht an schönen Gedichten und Liedern
oder in stiller Beschaulichkeit der Natur zu ihrer
jetzigen Höhe heraufgearbeitet hat, sondern der Zwang,
durch die Lebenserfüllung den Dingen auf den Grund
gehen zu müssen, war es. Ohne Zweifel ist unsere
Lebensbestimmung von Haus aus eine sehr vernünf-
tige; wir handeln nur leider sehr häufig unvernünftig.
Ich hob das schon zu Anfang dieser Ausführungen
hervor; wir suchen Schwierigkeiten, wo sie oft schon
überwunden sind, wir sind Lernende, wo wir Lehrer
sein könnten, wir sind Zerstörer, wo wir Schaffende
sein müßten. So ist der Einzelne, nicht die Gesamt-
heit. Der stete innere Widerspruch zwischen dem
Ich und der Welt bedeutet am Ende doch nur Be-
jahung und Fortschritt, eben das Lernen an den
Dingen bis zur schließlichen Überwindung aller Schwie-
rigkeiten und Widerstände. Mißerfolg war allezeit
der beste Lehrmeister. Hätten sich alle Tiere und
menschlichen Gegner stets mit einer besonderen Be-

reitwilligkeit erwürgen lassen, so wäre die Waffe un-
erfunden geblieben, ebenso die Fanggeräte. Würden
alle Materialien von der Beschaffenheit feuchten Leh-
mes sein, so wäre ein großer Teil der Werkzeuge
unerfunden geblieben. Wäre der Mensch Erbe aller
Fähigkeiten seiner tierischen Vorfahren gewesen, so
hätte er nicht Schiff noch Luftfahrzeuge zu erfinden
brauchen. Doch der Widerstand reizt, nicht minder
die menschliche Ohnmacht dem All gegenüber. So
kommen dann immer wieder aufs Neue Wunsch, Ab-
sicht, Lockung und Versuch, Ausführung und Miß-
lingen zusammen, um schließlich — wenn auch nicht
immer für den Einzelnen — so doch für die Gesamt-
heit mit Erfüllung, Gelingen und neuer Sehnsucht
belohnt und gekrönt zu werden. Das ist das Schicksal
des Menschen, sein Sieg und zugleich sein Untergang
zum Wohlbefinden der Gesamtheit. □
□ Jeder Handwerker, Kunstgewerbler und Künstler
bietet, jeder für sich in seiner Entwicklung, und sie
sind im Grunde zu allererst und zumeist Dilettanten
(diletto, einer Sache zuliebe), für die Erhärtung dieser
Darlegungen erschöpfende Beweise. Nicht nur alle
Unter- und Zwischenstufen, jedes Material, jede Ar-
beitsweise und Technik wie auch am Ende dieser
ihre Erzeugnisse gestatten ein solches Kriterium. Und
alle die Tüchtigen und Großen nicht nur dieser Be-
rufe, aber vor allen Dingen für unser Thema die
der oben skizzierten Berufe sind Sklaven und Herren
ihres Werdeganges gewesen und geworden, und nur
alle Stümper und Halbfertigen machten eine Aus-
nahme und fingen in der Mitte an. Unsere großen
Maler haben nicht nur ihre eigene Kunst sondern
auch ihre eigene Technik, weil diese voneinander
untrennbar sind; und so die Bildhauer, die Gold-
schmiede und Buchbinder. Nur das rein Handwerk-
liche ist ihnen gemeinsam. — Als wir anfingen die
alten Stile wieder nachzuahmen, mußten wir zuvor
erst wieder Lehrlinge der alten Techniken werden,
von denen viele gänzlich verloren gegangen waren.
Schnitzen, Schmieden, Treiben, Gießen, Emaillieren,
Handvergolden und viele andere Techniken mußten
von Grund auf wiedererlernt werden. Machen wir
nacheinander einen Spaziergang durch ein Völker-
kunde-Museum, ein Kunstgewerbe-Museum und durch
ein Museum für Technik und Industrie, das deutsche
Museum dieser Art in München etwa, so offenbart
sich uns darin die Lehrzeit der Menschheit sowohl
als, einen einzelnen Beruf herausgegriffen, zugleich
die Lernarbeit und der Lernstoff des Einzelnen. Er
muß sich da hindurcharbeiten, an seinem Leibe es
spüren, seinem Willen etwas Tyrannisches geben und
seiner Seele besonders feine Fühler. Ein Kompromiß,
das jedes Werden bedingt. Wir müssen auch für
die technischen oder kunsttechnischen Berufe nicht
den zeitlichen Anfang im Beginne einer fixierten
Lehrzeit als die erste Stufe des eigentlichen Lernens
betrachten, weil ja, und das beweist uns jedes normale
Kind, das sogenannte Prähistorische in der Über-
windung eines Materials oder in den Grundzügen
einer Technik beim Beginne der wirklichen Lehre
 
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