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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 22.1911

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Kunstgewerbliche Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.4361#0204

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KUNSTGEWERBLICHE RUNDSCHAU

VEREINE UND VERSAMMLUNGEN

□ Dresden. Der vierten ]ahresversammlung des »Deut-
schen Werkbundes« gab ein öffentlicher Vortrag von Her-
mann Muthesius das Gepräge. Neben dem großen prak-
tischen Arbeitsprogramm und dem reichen Felde geschmack-
licher Betätigung im Kleinen, erschien es notwendig, einen
Rückblick über den durchmessenen Weg zu gewinnen und
das Ziel für die nächsten Jahre abzustecken. Wäre der
»Deutsche Werkbund« wirklich nur die Angelegenheit
einiger, ihrer Zeit weit vorausgeeilter Künstler, die, wie
gehässige Gegner behaupten, sich in Szene setzen wollten,
so hätte man längst und mit größerer Schärfe ein rein künst-
lerisches Programm entwickelt und in den Kreisen der
Berufsgenossen und vor der Kritik ästhetisch verfochten
und durchgekämpft. Wie aber der künstlerische Kampf zu-
erst zu einer Sezession führt und in dessen weiterem Ver-
lauf die Kämpfenden und Vorwärtsstürmenden immer
mehr isoliert, so wäre es am Schlüsse nur auf die Kraft
und die Ausdauer einiger besonders Begabter angekommen,
deren Wunsch und Ziel sich, entsprechend ihrem Fortschritt,
dem allgemeinen Verständnis immer mehr entrückten,
ln Wahrheit handelt es sich beim Deutschen Werkbund
um etwas wesentlich Anderes! Jener Kampf der Künstler
hat zehn oder fünfzehn Jahre vor der Gründung des Bundes
begonnen und dauert für sich ungemindert fort. Er ist
eine ästhetische Notwendigkeit, die wohl durch den Werk-
bund eine gewaltige Förderung erfahren hat, aber auch
ohne ihn gefochten würde, so lange, bis die künstlerischen
Ziele unverlierbar erreicht und geistiges Gemeingut der
ganzen Nation geworden sind. n
n Der Deutsche Werkbund hat, vielleicht nur wenigen
Teilnehmern ganz bewußt, eine volkswirtschaftliche Basis
und seine Gründung war eine notwendige Folge der dem
deutschen Volke errungenen Stellung zum Welthandel.
Unsere junge Nation tritt erst jetzt in den Kreis der Völker, die
an jenem Welthandel teilhaben wollen und zwischen denen
die große Entscheidung fallen wird, wer an ihm teilhaben
kann. Was deutsche Kraft, Fleiß und Ausdauer vermochten,
ist geschehen, so daß wir jetzt wenigstens zur Konkurrenz
zugelassen sind. Aber Kraft, Ausdauer und Fleiß allein
würden uns nicht lange mehr befähigen, konkurrenzfähig
zu bleiben, dazu sind unsere volkswirtschaftlichen Vorbe-
dingungen nicht ausreichend. Wären wir ein Volk mit reichen
Materialschätzen und Naturprodukten, besäßen wir die
billigsten Verkehrswege usw., so könnten wir vielleicht
noch lange auf die materielle Unterbietung der Konkur-
renz hinarbeiten. Aber leider treffen alle diese Vorbedin-
gungen für uns nicht zu. Deutschland ist arm an Natur-
produkten und leidet an einer rapiden Übervölkerung.
Unsere Arbeitskraft ist teuer und der Umwandlungsprozeß
der Naturprodukte zum Fertigfabrikat ist bei uns unend-
lich kostspieliger, als wie bei den meisten der am Welt-
handel beteiligten Völker. Wir müssen, um konkurrenz-
fähig bleiben zu können, etwas mit in die Wagschale werfen,
was nur wir allein zu bieten haben, und um dessentwillen
man unsere Waren auch dann noch auf dem Welthandel
annehmen und begehren wird, wenn sie teurer sind, als
andere: das ist unsere nationale Eigenart! □
□ Wohl müssen wir, muß auch der Deutsche Werkbund
jenen Weg gehen, den unsere Künstlerpioniere gegangen
sind. Aber der Werkbund kann und darf sich nicht mit
l’art pour Part-Gedanken, die sich gewiß in irgend einer
Zeit durchsetzen werden, abgeben, sondern er muß, weil
ihm das Feuer des weltwirtschaftlichen Kampfes auf den
Nägeln brennt, auf einen nahen, wenn auch vielleicht
weniger zugespitzten und lauten Erfolg bedacht sein. Er
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soll und darf niemals zu einer Sezession, die zeitweilig
den Boden unter den Füßen verliert und Selbstzweck ist,
werden, er muß vielmehr seine Wurzeln so sehr wie
möglich in die Breite und in die Tiefe treiben, muß stets
in innigster Verbindung mit den geistig und ökonomisch
in Betracht kommenden Schichten des Volkes bleiben.
Kurz und gut, der »Deutsche Werkbund« muß eine lebendige
Sache der deutschen Nation sein! □
□ Jene Künstlerpioniere begannen ihren Kampf, weil ihnen
ganz einfach die Stilnachahmerei und die künstlerische
Unfreiheit und Gedankenlosigkeit zu dumm wurden und
Übelkeit erregten. Der»Deutsche Werkbund«aber wurde vor
vier Jahren begründet, weil die geistig und volkswirtschaft-
lich befähigten Köpfe des deutschen Volkes erkannten, daß
es ein nationales Verbrechen wäre und das deutsche Volk
selbstmörderisch in den Abgrund jagen würde, wenn wir
es noch länger wagen wollten, den übrigen Welthandels-
völkern mit Imitationen ihrer Kulturen unter die Augen
zu gehen. Bis da hatten deutscher Fleiß, Ausdauer und
kaufmännische Tüchtigkeit uns nicht erkennen lassen, auf
welchen Strudel wir zutrieben. Seitdem aber diese deut-
schen Tugenden an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit
angelangt sind, seitdem die mit Naturschätzen viel reicher
gesegneten anderen Welthandelsvölker angefangen haben,
uns in denselben Produkten, die ja nicht unserer nationalen
Eigenart entsprangen, materiell zu unterbieten, und uns
zur Fortsetzung dieses Kampfes ganz einfach die Mittel
fehlten, da war es die höchste Zeit, den Kampf auf das
nationale, geistig-künstlerische Gebiet zu verlegen. Diesen
Warnungsruf mit aller Eindringlichkeit immer und immer
wieder verkündet zu haben, ist das Verdienst des »Deut-
schen Werkbundes« und seiner geistigen Führer, für das
ihnen das deutsche Volk noch einmal dankbar sein wird,
a Doch wie unsere künstlerische nationale Eigenart ent-
wickeln und auf dem Weltmarkt zur Geltung bringen,
wenn wir keine haben?! Tatsächlich waren die geistig-
künstlerischen Schatzkammern des deutschen Volkes leer,
leer wie ein hundertjähriges Grab, als wir uns darauf be-
sannen, sie zu öffnen! Der Schrei des Entsetzens und der
Entrüstung, als wir dies vor zehn Jahren entdeckten, gellt
uns noch in den Ohren. Ungezählte Verwünschungen
gegen unsere Vorfahren sind in jenen Tagen ausgestoßen
worden, und erst ganz allmählich gelang es den philo-
sophischen Köpfen, uns zu einer gerechteren Beurteilung
der Sachlage zu bringen. □
□ Bei diesem Stadium setzte der vorher erwähnte pro-
grammatische Vortrag, den Hermann Muthesius auf der
Werkbund-Tagung in Dresden hielt, ein. Er schilderte die
wechselnden, wellenartigen Strömungen des Weltgeistes,
der einmal dieses und nach gemessener Zeit jenes Problem
der menschheitlichen Entwicklung erfaßt und durchdringt,
bis es für eine Spanne genügend gefördert ist und liegen
bleibt, bis eine spätere Generation den Faden wieder auf-
nimmt und weiterspinnt. Jahrhundertweise kann man dies
Pendeln zwischen den großen Polen des Menschengeistes
nachweisen. Das neunzehnte Jahrhundert hat die tech-
nischen Probleme auf eine Höhe gebracht, die uns zurück-
schauend schwindelnd dünkt und auf die wir in unserem
jetzigen Stadium kaum noch neue Bausteine heraufseilen
können, — das zwanzigste Jahrhundert wird dem Ausbau
der geschmacklich-künstlerischen Probleme gewidmet sein.
Die Anfänge hierzu haben sich, das darf man schon jetzt
sagen, mit rapider Schnelligkeit entwickelt. Zuerst die
Arbeiten der Fundamentierung. Die Basis der gedanken-
losen und schlechten Kopiererei wurde entfernt, der
Material-Betrug verpönt, die Schönheit der Arbeitsstoffe
wiedergefunden und verkündet, die Zweckgerechtigkeit
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