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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 22.1911

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Kunstgewerbliche Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.4361#0227

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KUNSTGEWERBLICHE RUNDSCHAU

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Giotto. Sind beide schlechte Kunst? Oder sind die Be-
dürfnisse des Auges lokal und zeitlich verschieden? Muß
aber Cornelius zeitliche Wandlungen zugeben, so muß er
auch zugeben, daß diese stets von den Kunstwerken be-
dingt worden sind. Denn das Auge hat stets zuerst ab-
gelehnt, was später Allgemeingut wurde, es mußte sich
erst gewöhnen, sich einstellen lernen. Das Auge ist jeden-
falls keine konstante Größe. Physiologisch mag es das
wohl sein, hier aber kommt nur seine künstlerische Genuß-
fähigkeit in Betracht, und diese ist nicht konstant. Das
ist der zweite Trugschluß. □
a Macht aber einer das Auge zum Ausgangspunkt einer
praktischen Ästhetik, so wird er doch die Möglichkeiten,
die in ihm liegen, vernünftigerweise ausnutzen dürfen.
Unser Auge kann sich doch nun einmal bewegen. Also
weshalb so verächtlich von den Erkenntnissen sprechen,
die wir dieser Beweglichkeit verdanken. Wir haben doch
nun einmal zwei Augen. Nach Cornelius aber liegt es so,
»daß alle erfreulichen wie eventuell unerfreulichen Wir-
kungen der Kunstwerke sich schon beim Betrachten mit
einem Auge einstellen« (Seite 15). Unser Sehorgan wird
also nicht in seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten er-
schöpft, es werden nur bestimmte Arten zu sehen ausge-
wählt. Diese Auswahl ist willkürlich. Damit ist die Ge-
setzmäßigkeit des Ganzen verloren. □
□ Ferner: die logische Folge etlicher Ausführungen des
Verfassers ist der konsequenteste Impressionismus. »Nicht
um das reale Dasein der Dinge als solcher handelt es sich
für den Künstler, sondern nur darum, welche Wirkung
dieses reale Dasein auf das Auge des Beschauers ausübt«
(Seite 20). Wir wollen den Verfasser keineswegs auf ein-
zelne Ausdrücke festlegen. Aber es sagt genug, daß Weis-
bach bei seiner Darstellung der impressionistischen Prin-
zipien an das Cornelius-Hildebrandsche »Fernbild« durch-
aus ankniipfen konnte. Wie verträgt sich damit die
Verdammung eben dieses Impressionismus, die sich wie ein
roter Faden durch das ganze Buch zieht? □
n Schließlich, um beim Impressionismus zu bleiben, scheint
uns der Neoimpressionismus, wie ihn jüngst Curt Herr-
mann entwickelt hat (Berlin, Erich Reiß), im Grunde eine
viel konsequentere und überzeugendere Ableitung künst-
lerischer Prinzipien aus Sehvorgängen darzustellen. Diese
Theorie ist allerdings mehr Optik, und wir sind auch durch-
aus nicht der Meinung, daß sie nun Recht habe, weil sie
sich in allem auf optische Prozesse berufen kann, wir
meinen nur, daß sich aus Vorgängen des Auges recht Ver-
schiedenes entwickeln und begründen läßt. Auch aus
diesem Grunde also halten wir es für falsch, es handle
sich um Neoimpressionismus oder um Neoklassizismus,
sich auf das Auge, seine Bedürfnisse oder seine Fähig-
keiten — und eines ist so berechtigt oder so unberechtigt
als Fundament wie das andere — zu berufen. □
□ In Wirklichkeit ist ja nun auch bei Cornelius-Hildebrand
gar nicht das Auge mit seinen Anforderungen das Prius,
sondern vielmehr eine bestimmte Kunstanschauung, ein
bestimmter Geschmack. Dieser ist in der Kunst des Hans
von Marees und Adolf Hildebrands schöpferisch tätig ge-
wesen. Wir danken dieser Kunst Unendliches, aber sie
ist nicht allein seligmachend. Daß diese bestimmte Rich-
tung das Prius gewesen ist, beweist das oben erwähnte
Verhältnis zum Impressionismus zur Genüge. Obwohl er
theoretisch durchaus nicht in feindlichem Verhältnis zu
Cornelius stehen muß, wird er praktisch verurteilt, eben,
weil im Grunde eine Ablehnung gewisser Richtungen (was
ja vom Betonen einer bestimmten Richtung unzertrennlich
ist) das Prius war. Hier müssen wir nun bemerken, daß

es einigermaßen verstimmt, Cornelius im Verurteilen
schärfer und absprechender zu finden als Hildebrand selbst.
□ Es fragt sich nun, wie wir den zugrunde liegenden
Kunstgeschmack näher benennen sollen. Es ist der einer
dekorativen Kunst. Das läßt schon der verhängnisvolle
Satz: »Kunst ist Gestaltung für das Auge« einigermaßen
deutlich erkennen. Dekorative Kunst mag man allerdings
in erster Linie davon abhängig machen, daß sie einheitlich,
klar, übersichtlich aufgenommen wird. Denn sie stellt sich
von vornherein freiwillig in den Dienst eines bestimmten
Ganzen und hat damit gewisse Forderungen zu erfüllen.
Cornelius kann nicht sagen, daß er nur eben diese deko-
rative Kunst gemeint habe. Er nennt sein Buch nicht
»Einige Erfahrungssätze künstlerischer Dekoration«, sondern
»Elementargesetze der bildenden Kunst«. Stellt er aber
die Forderung auf, daß alle Kunst dekorativ sein soll, so
sind wir im Recht, wenn wir ihm widersprechen. Es ist
das eben die Geschmacksrichtung der neueren Münchener
Malerei und Plastik, aus der die Theorie erwachsen ist.
Diese neue Münchener Kunst ist aber nicht »die« Kunst.
□ Die mitgeteilten Beispiele guter Lösungen bestätigen
unsere Ausführungen. Mit geringen Ausnahmen geben sie
Dekorationen, Plakate, Teppiche, Möbel usw. Von 245 Ab-
bildungen geben ungefähr 18 selbständige Gemälde. Da-
von fallen 4 auf Marees. Die außer ihnen als die klassischen
Muster genannt werden, sind Luini, Botticelli, Bellini. Ganz
folgerichtig muß diese Theorie in den italienischen Quattro-
centisten das Heil sehen. Reliefmäßigkeit, parallel hinter-
einander geschichtete Gründe, unsichtbare Vorderfläche
sind hier am reinsten ausgeprägt. Die Frage, wieviel in
dieser Kunst ungewollte Beschränkung ist, wird garnicht
aufgeworfen. Sie werden als Muster aufgestellt, so wie
unsere heutigen Augen auf sie reagieren. Ob sie so ge-
meint waren, wie wir sie heute sehen, spielt keine Rolle.
Auch in dieser Hinsicht also kommt Cornelius mit seiner
Augentheorie in die Brüche. □
□ Nein, nicht das Auge des Betrachters ist der Ausgangs-
punkt für den, der die Gesetze der Kunst ermitteln will.
Bildende Kunst ist Gestaltung. Also muß das Gestalten
der Ausgangspunkt sein. Vom Auge des Betrachters aus
fordert Cornelius z. B. in jedem Bilde perspektivische Raum-
werte. Armer Klinger! Er wollte eine leichte Vision
bilden, den Handschuh, jenen diabolischen, von Rosen
übergaukelt, von Amor betreut — ein Bild aus Nirgendwo.
Er wendet sich an Cornelius. »Muß ich denn perspek-
tivische Raumwerte geben?« »Jawohl.« m »Aber es ist ja
doch nichts mit leiblichen Augen Geschautes, es ist ja ein
Schein, ein Hauch, ein Reim!« »Nicht ohne perspektivische
Raumwerte.« »Es verträgt sie nicht!« Cornelius zuckt mit
den Achseln. Klinger aber schuf jenes entzückende Blatt:
Amor und der Handschuh. »Auch großen Künstlern be-
gegnen gelegentlich solche Mißgriffe, die, ohne alle per-
spektivischen Raumwerte gearbeitet, das Raumbedürfnis
völlig unbefriedigt lassen.« Beispiel: jenes Schlußblatt der
Handschuhparaphrase (Seite 175). Der Stoff, der den
Künstler zur Gestaltung drängt, perhorresziert den Raum.
Weil aber angeblich das Auge des Betrachters Raum-
bedürfnisse fühlt, hat die Gestaltung zu unterbleiben. Das
heißt denn doch die Kunstbetrachtung und Kunstbeurteilung
auf den Kopf stellen. Statt davon auszugehen, daß wir,
die wir inzwischen an alle Raffiniertheiten der Linie und
Farbe gewöhnt wurden, heute einen Luini als ein leicht
sehbares, klares und übersichtliches Bild genießen, sollten
wir uns in den Schaffensprozeß eines Grünewald vertiefen.
An ihm freilich wird der konsequente Hildebrandianer Cor-
nelius mit einem Achselzucken vorübergehen müssen, eben-
so wie an fünfzig Jahren moderner Malerei. Adolf Behne.

Für die Redaktion des Kunstgewerbeblattes verantwortlich: Fritz Hellwag, Berlin-Zehlendorf
Verlag von E. A. Seemann in Leipzig. — Druck von Ernst Hedrich Nachf., g. m. b. h. in Leipzig
 
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