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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 24.1913

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Meru, Johannes: Das Tier in der dekorativen Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.4432#0111

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DAS TIER IN DER DEKORATIVEN KUNST

DAS TIER IN DER DEKORATIVEN KUNST
Von Johannes Meru.

ZWISCHEN Pflanze und Mensch reiht sich in der
Schöpfungsgeschichte der Natur das Tier. Eine
ähnliche Entwicklung läßt sich auch in der Formen-
welt der Kunst erkennen. Abgesehen von den
Uranfängen, die mehr geometrische Probleme der Raum-
lind Flächenteilung sind, hat die Entwicklung der Formen
mit dem Ornament begonnen, hat dann weiter das Tier
zum Motiv genommen und ist zuletzt an das schwierige
Problem der Menschendarstellung gelangt. Ornament und
Pflanze nun haben viele gemeinsame Beziehungen. Gewiß
ist, daß der Mensch in den Anfängen der Kunstausübung
mancherlei Motive der Pflanzenwelt entlehnte, aber er
wuchs schon damals über den Vorwurf der Natur hinaus.
Er schöpfte aus eigenem Geiste hinzu, verwandte seine
Erkenntnisse der Flächenteilung (Quadrat, Rhombus, Kreis)
mit den Formen der Natur und verband oft beides im
Rhythmus der Symmetrie: er stilisierte. So entstand das
Formengefüge, das wir Ornament nennen. □
o Es sind jedoch [nicht ausschließlich pflanzliche Motive,
die hier Anregung zur Ornamentation gegeben haben, auch
das Tierreich mit seinen mannigfaltigen Erscheinungen
hat teil daran. Sicher ist die Ellipse auf das Ei und die
Volute auf das Gehäuse der Schnecke zurückzuführen. □
□ Die ältesten Denkmäler der Schrift, die ägyptischen
Hieroglyphen, sind in einer Bilderschrift gemeißelt und
geschrieben, die besonders den Tierkörper als Schriftzeichen
gebraucht. Aber auch sonst fand das Tier in der Malerei,
der Plastik und dem Kunstgewerbe aller Kulturvölker der
vorchristlichen Zeit vielfache Gestaltung, die sehr oft ein
Ausfluß religiöser Verehrung war. Tiermotive tragen ferner
die in Urnen und Gräbern gefundenen Schmucksachen,
Waffen und Geräte aus germanischer Vorzeit. Es sind
meist phantastische Vergliederungen von Schlangen- oder
Drachenleibern, die in einen Vogel- oder Fischkopf aus-
laufen. Mit Vorliebe wurden groteske Verbindungen solcher
Art zur Dekoration von Gewandnadeln, Gürtelschnallen und
anderem Zierat benutzt. □
□ Verwandten schon die alten Ägypter in ihren Hiero-
glyphen die Tiergestalt, so finden wir ebenso in den An-
fängen der fränkischen Schreibkunst, um 600 n. Chr., Ini-
tialen und ganze Schriftzeilen in kalligraphischer Absicht
aus Tieren, besonders Fischen und Vögeln gebildet. Die
graphophile Wissenschaft bezeichnet diese Arten als ichthyo-
und ornithomorphe Schriftgattungen. Mit der Ausbreitung
der Schreibkunst des Mittelalters in geistlichen und pro-
fanen Werken hat sich dann das Tiermotiv als Schmuck
der Schrift fast unübersehbar erweitert und in vielerlei
Variationen vertieft, die in den Darstellungen von seltsamen
Tierwesen, sowie den unorganischsten Verwachsungen von
Tier- und Menschenkörpern zuweilen von grandioser
Phantastik sind. Diese Formen wurden dann später vom
Holzschnitt in den Buchdruck übernommen, darin sie sich
bis heute entwicklungsfähig erhalten haben. n
□ Als dekoratives Element für den architektonischen Aus-
bau von Kirchen, Palästen und Nutzbauten im Mittelalter
wurde das Tier in der Skulptur mit Vorliebe als Motiv
benutzt. Es ist weiter in den kunstvollen schweren Erz-
arbeiten, den ehernen Gitterwerken, Kronleuchtern und

Kandelabern, ferner in den kostbaren Werken der Gold-
schmiede jener Zeit, den Reliquienschreinen, Kelchen und
Leuchtern, sowie den mannigfachen Elfenbeinschnitzarbeiten
zu finden, ln der Malerei zeigen uns neben bedeutungs-
vollen Resten der dekorativen Wandmalerei besonders
die Miniaturen die Stilwandlung der Tierauffassung. Die
Hauptsymbole der christlichen Kirche, die Taube und das
Lamm, sind einige Zeit vorherrschend, doch auch sie
finden bald ihre Ergänzung, die der Mensch aus seiner
Phantasie erzeugte, und die er als Gestalten der Hölle
ausgab. Nur so lassen sich die fratzenhaften Wasserspeier
in Tier-, Menschen- und Zwittergestalt beider erklären,
die noch heute von den Kirchen der romanischen und
gotischen Epoche auf uns heruntergrinsen. □
□ In Albrecht Dürers Apokalypse hat diese Phantastik
den künstlerischen Höhepunkt erreicht. Alle Schrecken
der Hölle und Vorhölle sind in diesen mit genialer Dä-
monie geschaffenen Tiergestalten offenbart. Nicht nur in
diesen Blättern, auch' in seinen Studien hat Dürer dem
Tier in der Darstellung durch anatomische Vertiefung
höhere Bedeutung gegeben. Er war ein trefflicher Pferde-
zeichner, und er hielt es für nicht zu gering, ein Kaninchen
mit fast haarspalterischer Kunst wiederzugeben. Seine
Vogel- und Käferstudien beseelt eine bis dahin unbekannt
zoologische Naturtreue. □
□ Dürer entstammte der Goldschmiedezunft, es sind
Einflüsse aus seiner ersten Lehrzeit, die ihn später zu
kunstgewerblichen Entwürfen anregten, darin er das Tier
als dekoratives Motiv benutzte. Er folgte der Tradition
der Heraldik, die den Tierkörper zu einem ihrer reizvollsten
Objekte zählt. □
□ Die Anfänge der Heraldik lassen sich bis in die ältesten
Zeiten der Münzprägung verfolgen. Wie unsere Geld-
münzen den heraldischen Adler tragen, so zierte einst die
griechischen Drachmen das Relief der Eule, des Krebses
und anderer Tiersymbole. So hat sich das Tier als Symbol,
als eine Art Schutzmarke von Städten und Ländern bis
auf unsere Tage erhalten. Vom Münzrelief zum Wappen
des Mittelalters ist es nur eine weitere Steigerung ins
Dekorative. Auch im Wappen ist neben vielen anderen
Emblemen das Tier, gebildet mit zahllosen stilistischen
Eigenheiten der heraldischen Kunst, eine der bedeutungs-
vollsten Erscheinungen. Hier finden wir die Phantasie
sich in wunderbaren Körpergebilden ergehen, die nicht
selten von urwüchsiger Kraft sind. □
□ Alle großen Stilepochen der letzten Jahrhunderte haben
die Heraldik mit neuem Formenleben erfüllt, deutlich
treten diese Wandlungen auch in der Auffassung des Tier-
motivs unter den Einflüssen der Renaissance, des Barocks
und Rokoko zutage, fast alle Gebiete und Techniken des
Kunstgewerbes umfassend. Rückblickend können wir an
vielen uns überlieferten Werken diese Evolution deutlich
erkennen. Und die Gegenwart endlich umgibt uns mit
aufwachsenden neuen Kunstformen. n
□ Es ist Darwins Verdienst, durch seine Forschung das
Tier als ein organisches Wesen, in einem ursprünglichen
Abstammungsverhältnis zum Menschen stehend, erkannt
zu haben. Vordem war das Tier eine Kreatur, ein Dämon,
 
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