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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 24.1913

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Schulze, Otto: Geschmacksbekundung als Lebensform
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https://doi.org/10.11588/diglit.4432#0150

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DIE KUNSTGEWERBESCHULE IN ELBERFELD

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des Schicklichen wie vollste Harmonie des Einzelnen
mit der Außenwelt. □
d Viele von uns besitzen nur einzelne Ausstrahlungen
dieser Empfindungseinheit. Man kann sich geschmack-
los kleiden und dabei doch ein Schönheitssucher und
Kenner im Bereiche der bildenden Kunst oder viel-
leicht noch mehr der Musik und Dichtkunst, ja, selbst
hier eine bedeutende produktive Kraft sein. Man kann
anderseits vollendeten Geschmack für die Außenseite des
Lebens zeigen und dabei doch ein Banause der Kunst
und den Kunstdingen gegenüber sein. Sogenannter ein-
seitiger, aus der Berufserfüllung heraus, oder aus ge-
wissen Liebhabereien, so als Sammler alter Porzellane,
sich ergebender Geschmack versagt sehr häufig auf
anderen Gebieten und in anderer Richtung. Ge-
schmack kann also auch teilweise Wiederstrahlung
von Sonderempfindungen sein. — Aber immer bleibt
der vollendet gute Geschmack der kritisierende Über-
wacher unserer Sinnesfunktionen, der Zensor des von
uns Aufzunehmenden und Abzulehnenden, der Pro-
duzent unseres sitttichen Handelns und der Wahl und
Gestaltung unserer Umgebung. Unser Geschmack
spiegelt also alles in allem unsere Persönlichkeit
wieder und unterstreicht, seltsamerweise, darin unsere
Schwächen besonders stark, unsere Stärke dagegen zu
einer gewöhnlichen Veranlagung herabdrückend. □
□ Ich möchte sagen, daß jeder Beruf, jeder Stand,
jedes Geschlecht und jedes Lebensalter seinen eigenen
Geschmack hat, und wiederum differenziert nach
Bildungsgrad, Lebensgewohnheit, wirtschaftlicher und
sozialer Stellung. Überall wird in dieser Staffelung
und Steigerung der Geschmack zu einem mehr oder

weniger mutigen sichtbaren Bekenntnis ganzer Schich-
ten und Volksklassen. Es sei hierbei an alte Standes-,
Bauern- und Zunfttrachten erinnert und an die damit
in engstem Zusammenhänge stehenden Kleiderord-
nungen. Das Gesamtleben nimmt darauf Rücksicht
in dem was verlangt wird und dem was es bietet.
Erst eine Übersättigung, ein Übermaß schaffen hier
eine widerwärtige, abstoßende und aufreibende Lebens-
form der Geschmacksentartung. Ich verwies schon
darauf, daß der umfassende Geschmacksbegriff das
Auskosten der ganzen Darbietung und damit die In-
anspruchnahme des ganzen Menschen verlange. Aber
von ganz bedenklicher Art ist doch jener Geschmack,
der nach dem Ungewöhnlichen, nach dem Sensatio-
nellen hungert, um lediglich der Gier der Sinne und
Nerven einen besonderen Kosthappen zu reichen. □
□ Geschmacksbekundung kann auf andere Weise gar
nicht zustande kommen, als daß sie eben zur Aus-
drucks- und Lebensform unseres gesamten Empfindens
und Auftretens wird. Wir haben natürlich verschie-
denen Anteil daran; meistens haben wir nur Teil-
arbeit zu verrichten, denn nur wenige sind in der
Lage, eine Lebensform zu pflegen, die kulturelle Ein-
heiten von dauerndem Werte schafft. Man kann nicht
von jedem Schneider und jeder Schneiderin verlangen,
daß, wenn sie auch Bekleidungskünstler in voller
Berufserfüllung sind, sie auf andern Gebieten be-
sonders beschlagen oder gar ausgesprochene Lebens-
künstler sind, die ihres Könnens und Geschmackes
Erzeugnisse mit gleicher Grazie und Anstand zu tragen
wissen wie die von ihnen damit bediente Kundschaft.
Ihre Arbeit ist zugleich Berufsgeschmack, Mittel zum
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